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Geschichte Lehren&Lernen

Auf dem rechten Auge blind

In meiner Alma Mater, der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, gibt es einen Emil-Gumbel-Saal. Dieser erinnert an den Statistikprofessor Emil Gumbel, der bis 1932 in Heidelberg lehrte. In meinem aktuellen Wohnort Frankfurt (Oder) gibt es ein Karl-Liebknecht-Gymnasium, eine Karl-Liebknecht-Straße und Karl-Liebknecht-Street Art (siehe oben).

Was verbindet den Antimilitaristen und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Karl Liebknecht, mit dem Heidelberger Statistikprofessor Emil Gumbel?

Zum einen ihr beherztes Engagement gegen den Ersten Weltkrieg, die „Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts“. Liebknecht hatte als einziger SPD-Reichstagsabgeordneter den Schneid, bei der zweiten Abstimmung im Oktober 1914 gegen die Kriegskredite zu stimmen, die Streben des kaiserlichen Deutschlands nach einem „Platz an der Sonne“ überhaupt erst möglich machten. Seinen Einsatz gegen das Gemetzel an der Front teilte er mit Gumbel, der sich nach seinen eigenen Erfahrungen in der Armee publizistisch aktiv gegen den Krieg einbrachte.

Zum anderen war Gumbel einer der Ersten, der den Mord der rechtsextremen Freikorps an Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1919 publizistisch aufdeckte. Seine Monografie „vier Jahre politischer Mord“ führte der breiten Öffentlichkeit der jungen Weimarer Republik vor Augen, wie Antidemokraten und Rechtsextreme unbehelligt von der Weimarer Justiz ihre politischen Gegner ermordeten. Gumbel führte seine Studien der Gerichtsakten in den 1920er Jahren fort und brachte 1929 einen, sozusagen, Fortsetzungsband heraus.

Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis hat die 1929 erschienene „Schrift von Emil Julius Gumbel mit dem Titel Verräter verfallen der Feme. Opfer / Mörder / Richter 1919-1929“ mit dem Herausgeber Carsten Pfeiffer in einem gebührenden Rahmen neu veröffentlicht.

Die Publikation eignet sich in hervorragender Weise für den Geschichtsunterricht der gymnasialen Oberstufe, um in Klasse 11 das Lernfeld Weimarer Republik vertieft zu behandeln.

Bei Gumbels Schrift handelt es sich formal um eine historische Quelle; diese gewinnt durch ihre klare Struktur und ihre empirisch-gesättigte Argumentation den Charakter eines darstellenden Textes über die Stützen der Weimarer Gesellschaft. Der Herausgeber Carsten Pfeiffer erweitert Gumbels eigentlichen Text um ein prägnantes Vorwort und ein einordnendes Nachwort von Dietrich Heither.

Gumbel unterteilt seine 400 Seiten umfassende Schrift in die politischen Morde und Femenmorde 1919/20; die Attentate der Organisation Consul – der Nachfolgeorganisation des Kapitän Erhardt, welche die ehem. Freikorpsoldaten sammelte und organisierte – sowie die Morde bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik. Der zweite Teil analysiert politische Morde in Oberschlesien sowie das Wirken der „Schwarzen Reichswehr“ in der zweiten Phase der Weimarer Republik. Gumbels Studie schließt mit einer Abschnitt über kommunistische Morde an politischen Gegnern.

George Grosz, 1926, Stützen der Republik. In: C.C. Buchner, Geschichte 11/12.

Gumbel beginnt seine Abhandlung mit einem Exkurs in das Legalitätsprinzip und einer Klärung der Begrifflichkeit:

Der politische Mord liegt dann vor, wenn politische Beweggründe subjektiv für die Entschlussfassung zur Tat maßgeblich waren, oder wenn objektiv die Tat eine politische Wirkung hatte. […] Es kommt […] nur auf die subjektive Annahme des Täters an, der etwa im Opfer, seiner politischen Richtung oder klassenmäßigen Einstellung nach, einen Schädling, einen politischen Gegner, einen Spitzel oder einen Verräter sieht.

Gumbel, 2023, S. 22

Die höchste Form des organisierten politischen Mordes ist der Fememord, […] der aufgrund eines Spruchs oder eines Befehls, einer bestimmten Gemeinschaft oder ihres Leiters in Ausübung einer privaten, selbst herrlichen ‚Justiz‘ […] verübt wird.“ Die Feme ist „die Gruppe, welche solche Taten in gemeinsamen Willen vorbereitet oder ausübt.

Gumbel 2023, S. 25

Nüchtern-sachlich spricht die historische Quelle, d.h. die Ergebnisse Gumbels aus dem akribischen Studium der Verfahrensakten der Gerichtsprozesse, für sich:

[I]n Deutschland [sind] seit dem Jahre 1919 bis zur Ermordung [Walther] Rathenaus [im Juni 1922] 376 politische Morde vorgekommen. Davon sind 354 von Rechts, 22 von Links begangen worden. Nur ein Mord von Rechts wurde gesühnt: der Mord an Rathenau. Alle anderen blieben ungesühnt. […] Von den Linksmorden wurden 17 gesühnt, 5 blieben ungesühnt. […] Die angeführten Zahlen [sind] nur minimal Zahlen.

Gumbel, 2023, S. 30-31.

Das Oberstufenlehrbuch von C.C. Buchner enthält dazu von Gumbel bereits eine Tabelle als empirisches Quellenmaterial sowie eine gute Karikatur aus dem Berliner „Ulk“ von 1927.

C.C. Buchner Verlag. Geschichte 11/12, S. 205.

Lehrkräfte und Dozenten werden in der neu aufgelegten Publikation weiteres reichhaltiges Unterrichts- und Klausurmaterial für den Anforderungsbereich III finden. Einige Beispiele für Aussagen, die zur Bildung eines Werturteils anregen:

Der politische Mord wird das große und schließlich erfolgreiche Kampfmittel der sozialen Reaktion und seiner Basis, des Groß Kapitals. Zunächst wandte es sich gegen die Führer des Sozialismus, dann gegen diejenigen, bei denen die „Gefahr“ bestand, dass ihr Wirken die Republik wirklich zu einem neuen Staat machen würde. Dann kamen Morde, welche die Arbeiterschaft provozieren sollten.

Gumbel, 2023, S. 34

Es folgt keine Aufklärung des Mordes. Der Grund hierfür ist die monarchische und kapitalistische Einstellung der Verwaltung und der Justiz. […] Für das Verständnis bedarf es einer Klarstellung der sozialen Funktion der Gesetze. […] Sie sind vielmehr Zeit bedingte Ergebnisse der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse, und ihr Zweck ist es, diese zu sichern.

Gumbel, 2023, S. 36.
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Die Deutschen und die Krim

Hinweis: einige Bildquellen wirken auf den Betrachter möglicherweise verstörend. Betrachten Sie bei Bedenken nur die Textversion (im Reader).

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas rief in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 31. Januar 2024 auch den Vernichtungsfeldzug der Hitlerwehrmacht in Osteuropa ins Bewusstsein:

„[E]rinnern wir uns in diesem Jahr besonders an die Opfer der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Mittel- und Osteuropa [und] an all diejenigen, die als Kriegsgefangene und […] Zwangsarbeiter ausgebeutet und entrechtet wurden. […]“

Bärbel Bas (2024), Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus; https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2024/20240131-988016

Damit verbindet sich ein immanenter Lehrauftrag: „Wir brauchen mehr politische Bildung […] auch und gerade in Schulen.“ (Ebd.)

Einen geeigneten Aufsatz für den Einsatz im Geschichtsunterricht in Klasse 9 und 11 zu diesem Thema bietet der Beitrag von Bert Hoppe in der aktuellen Ausgabe der APuZ (6-8/2024).

Hoppe, Bert (2024), Schatten der Weltkriege. Die Deutschen und die Krim. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 74(6-8/2024), 33-39.

Hoppe konstatiert dabei eine entlarvende „Unkenntnis“ weiter Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber Osteuropa, verknüpft mit Selbstmitleid. Anekdoten, wie die von Joseph Beuys über einen Flugzeugabsturz als deutscher Landser 1944 auf der Krim, reihen „sich ein in die zahllosen Erzählungen deutscher Kriegsteilnehmer, in denen das eigene Leid überhöht, das der Menschen in den überfallenen Ländern hingegen ausgeblendet wird“ (Hoppe, 2024, S. 34).

Im Fall der Krim datieren deutsche Besatzungspolitik und -Weltmachtphantasien bereits auf das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Kriegsbegeisterung von 1914 ist spätestens mit dem Kohlrübenwinter 1916 dahin, der innenpolitische Burgfrieden brüchig. Während im Westen trotz Giftgaseinsatz keine mehr Erfolge zu verbuchen sind, bricht die Reichswehrsführung im Osten ihren Diktatfrieden von Brest-Litowsk mit der jungen bolschewistischen Regierung und besetzt im April 1918 die Krim. General Ludendorff sieht die Krim dabei „als Ausgangspunkt für die Ausübung deutscher Herrschaft bis in den Kaukasus hinein“ (Hoppe, 2024, 36). Die Novemberrevolution in Deutschland vertreibt den Kaiser jedoch aus dem Neuen Palais und die deutschen Truppen ziehen von der Krim und aus der Ukraine ab. 

Im Unterschied zu Ludendorff „spielten für die Nationalsozialisten spezifisch völkische Motive eine Rolle“ für ihre „Lebensraumpolitik“ auf der Krim.

„Hitler äußerte im kleinen Kreis am 16. Juli 1941, [die Krim] müsse ‚von allen Fremden geräumt und deutsch besiedelt werden‘“

(Hoppe, 2024, S. 37).

Bildquelle 2 aus dem Bundesarchiv Koblenz (F016222-0043A) verdeutlicht, was das für die Bürger der Sowjetunion auch auf der Krim bedeutete. Die Quelle findet sich auch im Dokumentationszentrum „Topografie des Terrors“ in Berlin.

Abb. 2.: „Erhängte sowjetische Partisanen, vermutlich Jalta, Krim, undatiert (1942).Quelle: Stiftung Topografie des Terrors (Hrsg.), 5. Aufl. 2018 [2010], Topografie des Terrors, Berlin, S. 315.

Bis Ende 1941 ermordeten Reichswehr und Einsatzgruppen auf der Krim 60.000 Juden. 

Hoppe, 2024.

Um mit Bärbel Bas zu schließen, „‚Nie wieder!‘ – […] bleibt eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft“ – das gilt gerade auch für Judenhass und die Verbrechen Hitlerdeutschlands in der ehemaligen Sowjetunion.

Abb. 1 (oben): Quelle: Hoppe, 2024, S. 33.

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Geschichte

Einsichten und Enttäuschungen zu Weihnachten

Krenz, Egon (2023): Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Berlin: Edition Ost. 446 Seiten, 26 Euro.

„Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers“ —- an dieses Bonmot der Historikerzunft erinnerte uns junge Studenten damals der Leiter des Universitätsarchiv Heidelberg, Prof. Dr. Werner Moritz. Verzerrte Wahrnehmung oder simple Erinnerungslücken führen dazu, dass zwei Menschen über ein identisches (historisches) Ereignis zwei bisweilen vollkommen unterschiedliche Erzählungen abliefern. 

Gerade aus den inneren Zirkeln der Macht haben wir aber oft keine andere Informationen über informelle Abläufe und Entscheidungen, als die nachträglichen Schilderungen derjenigen Personen, die dabei waren.

Abb. 1: Empfang für den sowjetischen Staats- und Parteichef und seine Frau Raissa. Die beiden versahen das Foto für Erika und Egon Krenz mit ihren Autogrammen, 1986. Quelle: Krenz, 2023, XXIV.

Mit großer Spannung habe ich daher den medial groß angekündigten Band 2 der Erinnerungen von Egon Krenz erwartet. Ich war speziell an einem Vergleich der Darstellung vom November/Dezember 1989 durch prägende DDR-Akteure interessiert. Denn Gregor Gysi schildert in seiner Autobiografie folgende Begebenheit: 

Am 4. November [1989, der bisher größten Demonstration in der DDR mit einer halben Million Menschen] auf dem Alexanderplatz hatte ich vor einer großen Öffentlichkeit dazu aufgerufen, Egon Krenz als neuen Generalsekretär des ZK der SED eine Chance zu geben. Vier Wochen waren seitdem verstrichen, Krenz hatte er seine Chance nicht genutzt. Er zeigte sich überfordert, und es war abzusehen, ihm würde kein Denken in neuen Dimensionen und kein Handeln in reformierten Strukturen gelingen — ich wollte ihn nun genauso fernsehöffentlich wie am 4. November zum Rücktritt auffordern. Tausende standen am 2. Dezember [1989], dem Tag der Kundgebung, vor dem ZK-Gebäude. Plötzlich erschien Egon Krenz. Es fiel mir in seine Anwesenheit schwer, aber ich sagte, was gesagt werden muss: ich erklärte, und das unter dem Beifall sehr viele Parteimitglieder [der SED] auf dem Platz, dass er zurücktreten müssen . 

(Gysi, Gregor, 3. Auflage 2020, Ein Leben ist zuwenig. Die Autobiografie, Berlin: Aufbau Verlag, S. 273)
Abb. 2: Gregor Gysi am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Quelle: Gysi, 2020.

Und was sagt der gescholtene Egon Krenz dazu? Das akademische Jahr endet hier mit einer herben Enttäuschung. Band 2 der Erinnerungen beginnt 1973 und endet 1988. Gerade als es spannend wird, vertröstet uns der Autobiograf Krenz auf einen zukünftigen dritten Teil seiner Autobiografie. So besteht das Buch vor allem aus Anekdoten „für die Enkel“, Geschichten, über sicherlich bedeutsame Ereignisse und Entscheidungen in seiner Funktion als Chef des Jugendverbandes der DDR, der FDJ und später Mitglied im ZK der SED. Leider kratzen diese viel zu oft nur an der Oberfläche. Vieles bleibt unausgesprochen, so dass man sich mit Blick auf den Untertitel „Gestaltung und Veränderung“ fragt, worin denn die konkreten Veränderungen bestanden haben.

Konkreten Mehrwert bieten die Erzählungen bei einigen außenpolitischen Fragen, u.a. im Verhältnis China-DDR-UdSSR. Dazu aber mehr in einem weiteren Post im neuen Jahr.

Abb. 2: Smalltalk mit Udo Lindenberg (links) und Egon Krenz (Mitte), Quelle: Krenz, 2023, XIII.
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Geschichte Lehren&Lernen

Autobahn und Reichsgaragenordnung

Deutschlands brauner Weg in die Autogesellschaft.

Knie, Andreas (2023): Deutschlands Weg in die AutomobilgesellschaftVerkehrspolitik im Schatten des NS. APuZ, 73 (51-52/2023), S. 9-15.

Impuls für den nächsten Geschichtsunterricht: Kraftfahrtzeugführer auf dem Weg von Berlin in Richtung polnische Grenze passieren an der A12 ein großflächiges Hinweisschild mit der Aufschrift „ Autobahn der Freiheit“. Historisch weitgreifender wäre eine Ergänzung um ein weiteren Hinweis „gebaut von Zwangsarbeitern“. 4.000 Kilometer „Nur-Autostraßen“ waren dabei nur ein Element der NS-Programms zur Popularisierung des Autos. Detailliert und dennoch kurzweilig zeigt Andreas Knie in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) auf, wie die Nazis ab 1934 die „rechtlichen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen und kulturellen Grundlagen“ für den „Katapultstart“ der Autogesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg schufen. Wie zum Beispiel die Reichsgaragenordnung von 1939. All das und noch viel mehr im Artikel online unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/lokale-verkehrswende-2023/543680/deutschlands-weg-in-die-automobilgesellschaft/

Abb. oben: Werbeblatt für die Internationale Automobil- und Motorrad-Ausstellung 1933 in Berlin. Quelle: Knie (2023, S. 11).

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