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Tom Holland: Herrschaft

Die Osterferien bieten Zeit, neue Buchkäufe ausführlicher zu studieren. Dazu gehört Tom Hollands deutsche Paperbackausgabe von „Dominion. The Making of the Western Mind“ bei Klett-Cotta (2023, auf englisch zuerst 2019 bei Little, Brown erschienen).

Holland, Tom (2023), Herrschaft. Die Entstehung des Westens, Stuttgart: Klett-Cotta, 620 Seiten, 20 Euro. 

Der britische Autor Tom Holland bietet dem Leser in 21 Kapiteln eine anspruchsvolle, aber kurzweillige Reise in die Entstehung jener Weltbilder, die das ausmachen, was wir heute als den „Westen“ bezeichnen. Die rund 600 Seiten starten in der Antike und gehen über das Mittelalter („Christentum“) bis in die Neuzeit („Modernitas“). Als Einführungsbuch für Schüler der gymnasialen Oberstufe ist der Band jedoch nicht geeignet.

Ich habe zwei Kapitel herausgepickt, um den Charakter des Buches zu illustrieren: Kapitel VI Himmel und XIII Reformation. Die römisch-griechische Antike ist leider nicht (mehr) Gegenstand des Rahmenlehrplans in Brandenburg, die Reformation als Brücke in die frühe Neuzeit aber umso mehr. Kapitel VI umreist sprachlich sicher eloquent die Weltbilder und Konzepte, die das Denken eines (christlichen) Menschen im ausgehenden 5. Jahrhundert u. Z. prägen. In jener Zeit hatte „sogar das Wort religio seine Bedeutung verändert: Jetzt bezeichnete es das Leben eines Mönches oder einer Nonne“ (Holland, 2023, S. 178). So weit, so verständlich. Die weiteren Ausführungen darüber, welche Vorstellung, Glaubenssätze und Ängste die Menschen im lateinischen Europa bewegte, bleiben mir zu abstrakt und metaphysisch. Für die Unterrichtsvorbereitung lassen sich aus diesem Kapitel Erkentnisse nur sehr schwer didaktisch reduzieren.

Deutlich besser gefällt mir das Kapitel XIII über Reformation in Europa. Auch hier setzt Holland implizit Grundlagenwissen über historische Fakten und Prozesse voraus. Was Luther auch über den deutschen Tellerrand und die Konfessionen hinaus bewirkte, wird kognitiv anregend beschrieben – wer der Augustinermönch und Professor für Bibelauslegung in Wittenberg war, sollte man vorher schon mal gehört haben. Das gleiche gilt für Thomas Müntzer, dem Holland – und das ist positiv hervorzuheben – ebenso Raum gibt, wie den Gedankengängen von Heinrich VIII in England und Johannes Calvin in Genf.

Äußerst positiv fällt die professionelle Arbeit des Verlags bzw. der Übersetzer auf. Für die englischsprachigen Quellen hat der Verlag jeweils deutschsprachige Veröffentlichungen herausgesucht und im Fussßnotenapparat ergänzt. So viel Mühe macht sich heute kaum noch jemand.

Hollands Buch liefert neue Einsichten und baut gedankliche Brücken zwischen Dingen, die man wusste, aber eben noch nicht in einen Zusammenhang gestellt hat. Aber es erfordert, wie gesagt, einiges Vorwissen. Insgesamt ein Nice-to-Have, aber keine Pflichtlektüre.

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Geschichte

Neu im Buchregal: „Die Brandstiftung“ oder Die Nacht, in der die Demokratie unterging

Heute vor 91 Jahren, am 27. Februar 1933, brannte der Reichstag in Berlin. Für die Nazis bot die Brandstiftung die einmalige Gelegenheit, ihren Terror gegen politische Gegner offen auszuüben und ihm gleichzeitig einen legal-juristischen Anstrich zu geben. 

Am Tag darauf, dem 28. Februar 1933, erließ Reichspräsident und Antidemokrat Hindenburg die sog. Reichstagsbrandverordnung (Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat). Nur wenige Wochen danach stimmte eine Mehrheit der noch verbliebenen Reichstagsabgeordneten dem sog. Ermächtigungsgesetz zu – und schaffte sich damit selbst ab.

„Strategie der Spannung“: Wahlplakat der NSDAP zur Reichstagswahl am 5. März 1933. Quelle: Topografie des Terrors. Eine Dokumentation. 5. Aufl. 2018, S. 19

Es gibt wohl kaum ein aktuelleres Thema im Geschichtsunterricht zur NS-Herrschaft in Klassenstufe 9 und 11. Neue Impulse für Dozenten und Lehrkräfte bietet die Neuerscheinung von Uwe Sokoup im Heyne-Verlag.

Soukup, Uwe (2023): Die Brandstiftung. Mythos Reichstagsbrand - was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging. München: Heyne, 208 Seiten, 22 Euro. 

Uwe Soukup legt in seinem aktuellen Buch „Die Brandstiftung“ eine Auseinandersetzung mit dem „Mythos Reichstagsbrand“ vor.

„Unbestritten […] ist die Tatsache, dass der Reichstagsbrand von den Nazis sehr effektiv genutzt wurde, um ihre Diktatur und damit ihren Terror zu installieren. Über die Frage aber, ob die Nazis, den Brand, den sie so gut nutzt, auch selbst gelegt hatten, wird seit Jahrzehnten gestritten.“

(Soukup, 2023, S. 10)

Lange hielt und hält sich in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung die Einzeltäterthese, wonach der geistig verwirrte Marinus von der Lubbe an mehreren Orten im Reichstag Feuer gelegt haben soll. Soukup zerpflückt in seinem kurzweiligen Buch alle entsprechenden Behauptungen. Leider verzichtet Soukup auf Belegstellen für seine zahlreichen Verweise auf die Quellen und die Fachliteratur. Ein Belegapparat einschließlich Literaturverzeichnis hätte das lesenswerte Buch zusätzlich aufgewertet. So bleibt der Befund, dass „eine naturwissenschaftlich, unhaltbar These es schaffen konnte, die Geschichtsschreibung dieses für die endgültige Eroberung der absoluten Macht durch die Nazis zentralen Vorgangs über Jahrzehnte zu dominieren“ (Soukup, 2023, S. 171). 

„Die Weimarer Republik fand nicht am Tag der Macht Übertragung an Hitler ihr Ende, am 30. Januar 1933 – sondern am 27. Februar 1933, als in Berlin der Reichstag Opfer der Flammen und Hitler unumschränkte Diktator wurde.“

(Soukup, 2023, S. 9)

Und schon Egon Erwin Kisch, der wie auch Erich Mühsam, Carl von Ossietzky und viele andere bereits am 28. Februar 1933 von den Nazis verhaftet wurde, wusste und publizierte im April 1933: 

„Cui prodest – wem sollte die Taten nützen? Antwort: Dem, dem sie genützt hat. Dem, der durch sie seine parlamentarischen Gegner vom Parlament ausschließen, dem, der die gegen ihn kämpfende Arbeiterschaft schwächen, dem, der seinen Anhänger damit das längst versprochene Fest der langen Messer bieten wollte. Dem Nationalsozialismus.“

Kisch, Egon Erwin (1983 [1933]), „Der Reichstagsbrand“. In: Uhse, Bodo; Kisch, Gisela: Kisch, Egon Erwin. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. IX. Mein Leben für die Zeitung. 1926-1947. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 337-342.
ursprünglich erschienen in: Der Reichstagsbrand – Der Gegen-Angriff, 1. Jg., Nr. 1, Prag, Ende April 1933, S. 5
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Geschichte Lehren&Lernen Man spricht Deutsch

Neu gelesen: Fabian oder Der Gang vor die Hunde

📉. Vor wenigen Tagen, am 23. Februar, hätte Erich Kästner seinen 125. Geburtstag begangen. Aufmerksame Buchhändler haben daher am Wochenende die zahlreichen großen (das doppelte Lottchen) und kleinen Klassiker (ein kleiner Grenzverkehr) des Autors für große (Drei Männer im Schnee) und kleine Leser (Emil und die drei Zwillinge) prominent im Eingangsbereich ihrer Buchläden positioniert.

Sollte in keiner Bibliothek fehlen

Mir hatte es die „ungekürzte“ 😯 Urfassung von Kästners „Meisterwerk“ Fabian angetan, die „es so noch nie zu lesen gab“ (Verlagswerbung auf dem Cover). Wer kann da vorbeigehen, wenn er sich auch nur grob an die Handlung des also offensichtlich entschärften Fabian erinnert! Ich nicht. Ich hatte den Roman vor vier, fünf Jahren gelesen und wollte ihn immer im Geschichtsunterricht einsetzen, um die nicht so goldenen Seiten der Weimarer Republik zu illustrieren. Nach den ersten Dutzend Seiten zeigt sich Berlin aus Kästners Feder tatsächlich (wieder) als „Moloch der Moderne“. Ich erinnere mich noch, dass Fabians Ende in der Urspungsfassung anders ausgehen sollte. Bin also gespannt, ob Herr Fabian nicht einfach ertrinkt …

Lehrer haben vormittags Recht und nachmittags frei
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Geschichte Lehren&Lernen

Auf dem rechten Auge blind

In meiner Alma Mater, der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, gibt es einen Emil-Gumbel-Saal. Dieser erinnert an den Statistikprofessor Emil Gumbel, der bis 1932 in Heidelberg lehrte. In meinem aktuellen Wohnort Frankfurt (Oder) gibt es ein Karl-Liebknecht-Gymnasium, eine Karl-Liebknecht-Straße und Karl-Liebknecht-Street Art (siehe oben).

Was verbindet den Antimilitaristen und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Karl Liebknecht, mit dem Heidelberger Statistikprofessor Emil Gumbel?

Zum einen ihr beherztes Engagement gegen den Ersten Weltkrieg, die „Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts“. Liebknecht hatte als einziger SPD-Reichstagsabgeordneter den Schneid, bei der zweiten Abstimmung im Oktober 1914 gegen die Kriegskredite zu stimmen, die Streben des kaiserlichen Deutschlands nach einem „Platz an der Sonne“ überhaupt erst möglich machten. Seinen Einsatz gegen das Gemetzel an der Front teilte er mit Gumbel, der sich nach seinen eigenen Erfahrungen in der Armee publizistisch aktiv gegen den Krieg einbrachte.

Zum anderen war Gumbel einer der Ersten, der den Mord der rechtsextremen Freikorps an Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1919 publizistisch aufdeckte. Seine Monografie „vier Jahre politischer Mord“ führte der breiten Öffentlichkeit der jungen Weimarer Republik vor Augen, wie Antidemokraten und Rechtsextreme unbehelligt von der Weimarer Justiz ihre politischen Gegner ermordeten. Gumbel führte seine Studien der Gerichtsakten in den 1920er Jahren fort und brachte 1929 einen, sozusagen, Fortsetzungsband heraus.

Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis hat die 1929 erschienene „Schrift von Emil Julius Gumbel mit dem Titel Verräter verfallen der Feme. Opfer / Mörder / Richter 1919-1929“ mit dem Herausgeber Carsten Pfeiffer in einem gebührenden Rahmen neu veröffentlicht.

Die Publikation eignet sich in hervorragender Weise für den Geschichtsunterricht der gymnasialen Oberstufe, um in Klasse 11 das Lernfeld Weimarer Republik vertieft zu behandeln.

Bei Gumbels Schrift handelt es sich formal um eine historische Quelle; diese gewinnt durch ihre klare Struktur und ihre empirisch-gesättigte Argumentation den Charakter eines darstellenden Textes über die Stützen der Weimarer Gesellschaft. Der Herausgeber Carsten Pfeiffer erweitert Gumbels eigentlichen Text um ein prägnantes Vorwort und ein einordnendes Nachwort von Dietrich Heither.

Gumbel unterteilt seine 400 Seiten umfassende Schrift in die politischen Morde und Femenmorde 1919/20; die Attentate der Organisation Consul – der Nachfolgeorganisation des Kapitän Erhardt, welche die ehem. Freikorpsoldaten sammelte und organisierte – sowie die Morde bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik. Der zweite Teil analysiert politische Morde in Oberschlesien sowie das Wirken der „Schwarzen Reichswehr“ in der zweiten Phase der Weimarer Republik. Gumbels Studie schließt mit einer Abschnitt über kommunistische Morde an politischen Gegnern.

George Grosz, 1926, Stützen der Republik. In: C.C. Buchner, Geschichte 11/12.

Gumbel beginnt seine Abhandlung mit einem Exkurs in das Legalitätsprinzip und einer Klärung der Begrifflichkeit:

Der politische Mord liegt dann vor, wenn politische Beweggründe subjektiv für die Entschlussfassung zur Tat maßgeblich waren, oder wenn objektiv die Tat eine politische Wirkung hatte. […] Es kommt […] nur auf die subjektive Annahme des Täters an, der etwa im Opfer, seiner politischen Richtung oder klassenmäßigen Einstellung nach, einen Schädling, einen politischen Gegner, einen Spitzel oder einen Verräter sieht.

Gumbel, 2023, S. 22

Die höchste Form des organisierten politischen Mordes ist der Fememord, […] der aufgrund eines Spruchs oder eines Befehls, einer bestimmten Gemeinschaft oder ihres Leiters in Ausübung einer privaten, selbst herrlichen ‚Justiz‘ […] verübt wird.“ Die Feme ist „die Gruppe, welche solche Taten in gemeinsamen Willen vorbereitet oder ausübt.

Gumbel 2023, S. 25

Nüchtern-sachlich spricht die historische Quelle, d.h. die Ergebnisse Gumbels aus dem akribischen Studium der Verfahrensakten der Gerichtsprozesse, für sich:

[I]n Deutschland [sind] seit dem Jahre 1919 bis zur Ermordung [Walther] Rathenaus [im Juni 1922] 376 politische Morde vorgekommen. Davon sind 354 von Rechts, 22 von Links begangen worden. Nur ein Mord von Rechts wurde gesühnt: der Mord an Rathenau. Alle anderen blieben ungesühnt. […] Von den Linksmorden wurden 17 gesühnt, 5 blieben ungesühnt. […] Die angeführten Zahlen [sind] nur minimal Zahlen.

Gumbel, 2023, S. 30-31.

Das Oberstufenlehrbuch von C.C. Buchner enthält dazu von Gumbel bereits eine Tabelle als empirisches Quellenmaterial sowie eine gute Karikatur aus dem Berliner „Ulk“ von 1927.

C.C. Buchner Verlag. Geschichte 11/12, S. 205.

Lehrkräfte und Dozenten werden in der neu aufgelegten Publikation weiteres reichhaltiges Unterrichts- und Klausurmaterial für den Anforderungsbereich III finden. Einige Beispiele für Aussagen, die zur Bildung eines Werturteils anregen:

Der politische Mord wird das große und schließlich erfolgreiche Kampfmittel der sozialen Reaktion und seiner Basis, des Groß Kapitals. Zunächst wandte es sich gegen die Führer des Sozialismus, dann gegen diejenigen, bei denen die „Gefahr“ bestand, dass ihr Wirken die Republik wirklich zu einem neuen Staat machen würde. Dann kamen Morde, welche die Arbeiterschaft provozieren sollten.

Gumbel, 2023, S. 34

Es folgt keine Aufklärung des Mordes. Der Grund hierfür ist die monarchische und kapitalistische Einstellung der Verwaltung und der Justiz. […] Für das Verständnis bedarf es einer Klarstellung der sozialen Funktion der Gesetze. […] Sie sind vielmehr Zeit bedingte Ergebnisse der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse, und ihr Zweck ist es, diese zu sichern.

Gumbel, 2023, S. 36.
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Geschichte Teaching

Die Deutschen und die Krim

Hinweis: einige Bildquellen wirken auf den Betrachter möglicherweise verstörend. Betrachten Sie bei Bedenken nur die Textversion (im Reader).

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas rief in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 31. Januar 2024 auch den Vernichtungsfeldzug der Hitlerwehrmacht in Osteuropa ins Bewusstsein:

„[E]rinnern wir uns in diesem Jahr besonders an die Opfer der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Mittel- und Osteuropa [und] an all diejenigen, die als Kriegsgefangene und […] Zwangsarbeiter ausgebeutet und entrechtet wurden. […]“

Bärbel Bas (2024), Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus; https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2024/20240131-988016

Damit verbindet sich ein immanenter Lehrauftrag: „Wir brauchen mehr politische Bildung […] auch und gerade in Schulen.“ (Ebd.)

Einen geeigneten Aufsatz für den Einsatz im Geschichtsunterricht in Klasse 9 und 11 zu diesem Thema bietet der Beitrag von Bert Hoppe in der aktuellen Ausgabe der APuZ (6-8/2024).

Hoppe, Bert (2024), Schatten der Weltkriege. Die Deutschen und die Krim. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 74(6-8/2024), 33-39.

Hoppe konstatiert dabei eine entlarvende „Unkenntnis“ weiter Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber Osteuropa, verknüpft mit Selbstmitleid. Anekdoten, wie die von Joseph Beuys über einen Flugzeugabsturz als deutscher Landser 1944 auf der Krim, reihen „sich ein in die zahllosen Erzählungen deutscher Kriegsteilnehmer, in denen das eigene Leid überhöht, das der Menschen in den überfallenen Ländern hingegen ausgeblendet wird“ (Hoppe, 2024, S. 34).

Im Fall der Krim datieren deutsche Besatzungspolitik und -Weltmachtphantasien bereits auf das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Kriegsbegeisterung von 1914 ist spätestens mit dem Kohlrübenwinter 1916 dahin, der innenpolitische Burgfrieden brüchig. Während im Westen trotz Giftgaseinsatz keine mehr Erfolge zu verbuchen sind, bricht die Reichswehrsführung im Osten ihren Diktatfrieden von Brest-Litowsk mit der jungen bolschewistischen Regierung und besetzt im April 1918 die Krim. General Ludendorff sieht die Krim dabei „als Ausgangspunkt für die Ausübung deutscher Herrschaft bis in den Kaukasus hinein“ (Hoppe, 2024, 36). Die Novemberrevolution in Deutschland vertreibt den Kaiser jedoch aus dem Neuen Palais und die deutschen Truppen ziehen von der Krim und aus der Ukraine ab. 

Im Unterschied zu Ludendorff „spielten für die Nationalsozialisten spezifisch völkische Motive eine Rolle“ für ihre „Lebensraumpolitik“ auf der Krim.

„Hitler äußerte im kleinen Kreis am 16. Juli 1941, [die Krim] müsse ‚von allen Fremden geräumt und deutsch besiedelt werden‘“

(Hoppe, 2024, S. 37).

Bildquelle 2 aus dem Bundesarchiv Koblenz (F016222-0043A) verdeutlicht, was das für die Bürger der Sowjetunion auch auf der Krim bedeutete. Die Quelle findet sich auch im Dokumentationszentrum „Topografie des Terrors“ in Berlin.

Abb. 2.: „Erhängte sowjetische Partisanen, vermutlich Jalta, Krim, undatiert (1942).Quelle: Stiftung Topografie des Terrors (Hrsg.), 5. Aufl. 2018 [2010], Topografie des Terrors, Berlin, S. 315.

Bis Ende 1941 ermordeten Reichswehr und Einsatzgruppen auf der Krim 60.000 Juden. 

Hoppe, 2024.

Um mit Bärbel Bas zu schließen, „‚Nie wieder!‘ – […] bleibt eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft“ – das gilt gerade auch für Judenhass und die Verbrechen Hitlerdeutschlands in der ehemaligen Sowjetunion.

Abb. 1 (oben): Quelle: Hoppe, 2024, S. 33.

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Geschichte

Einsichten und Enttäuschungen zu Weihnachten

Krenz, Egon (2023): Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Berlin: Edition Ost. 446 Seiten, 26 Euro.

„Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers“ —- an dieses Bonmot der Historikerzunft erinnerte uns junge Studenten damals der Leiter des Universitätsarchiv Heidelberg, Prof. Dr. Werner Moritz. Verzerrte Wahrnehmung oder simple Erinnerungslücken führen dazu, dass zwei Menschen über ein identisches (historisches) Ereignis zwei bisweilen vollkommen unterschiedliche Erzählungen abliefern. 

Gerade aus den inneren Zirkeln der Macht haben wir aber oft keine andere Informationen über informelle Abläufe und Entscheidungen, als die nachträglichen Schilderungen derjenigen Personen, die dabei waren.

Abb. 1: Empfang für den sowjetischen Staats- und Parteichef und seine Frau Raissa. Die beiden versahen das Foto für Erika und Egon Krenz mit ihren Autogrammen, 1986. Quelle: Krenz, 2023, XXIV.

Mit großer Spannung habe ich daher den medial groß angekündigten Band 2 der Erinnerungen von Egon Krenz erwartet. Ich war speziell an einem Vergleich der Darstellung vom November/Dezember 1989 durch prägende DDR-Akteure interessiert. Denn Gregor Gysi schildert in seiner Autobiografie folgende Begebenheit: 

Am 4. November [1989, der bisher größten Demonstration in der DDR mit einer halben Million Menschen] auf dem Alexanderplatz hatte ich vor einer großen Öffentlichkeit dazu aufgerufen, Egon Krenz als neuen Generalsekretär des ZK der SED eine Chance zu geben. Vier Wochen waren seitdem verstrichen, Krenz hatte er seine Chance nicht genutzt. Er zeigte sich überfordert, und es war abzusehen, ihm würde kein Denken in neuen Dimensionen und kein Handeln in reformierten Strukturen gelingen — ich wollte ihn nun genauso fernsehöffentlich wie am 4. November zum Rücktritt auffordern. Tausende standen am 2. Dezember [1989], dem Tag der Kundgebung, vor dem ZK-Gebäude. Plötzlich erschien Egon Krenz. Es fiel mir in seine Anwesenheit schwer, aber ich sagte, was gesagt werden muss: ich erklärte, und das unter dem Beifall sehr viele Parteimitglieder [der SED] auf dem Platz, dass er zurücktreten müssen . 

(Gysi, Gregor, 3. Auflage 2020, Ein Leben ist zuwenig. Die Autobiografie, Berlin: Aufbau Verlag, S. 273)
Abb. 2: Gregor Gysi am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Quelle: Gysi, 2020.

Und was sagt der gescholtene Egon Krenz dazu? Das akademische Jahr endet hier mit einer herben Enttäuschung. Band 2 der Erinnerungen beginnt 1973 und endet 1988. Gerade als es spannend wird, vertröstet uns der Autobiograf Krenz auf einen zukünftigen dritten Teil seiner Autobiografie. So besteht das Buch vor allem aus Anekdoten „für die Enkel“, Geschichten, über sicherlich bedeutsame Ereignisse und Entscheidungen in seiner Funktion als Chef des Jugendverbandes der DDR, der FDJ und später Mitglied im ZK der SED. Leider kratzen diese viel zu oft nur an der Oberfläche. Vieles bleibt unausgesprochen, so dass man sich mit Blick auf den Untertitel „Gestaltung und Veränderung“ fragt, worin denn die konkreten Veränderungen bestanden haben.

Konkreten Mehrwert bieten die Erzählungen bei einigen außenpolitischen Fragen, u.a. im Verhältnis China-DDR-UdSSR. Dazu aber mehr in einem weiteren Post im neuen Jahr.

Abb. 2: Smalltalk mit Udo Lindenberg (links) und Egon Krenz (Mitte), Quelle: Krenz, 2023, XIII.
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Autobahn und Reichsgaragenordnung

Deutschlands brauner Weg in die Autogesellschaft.

Knie, Andreas (2023): Deutschlands Weg in die AutomobilgesellschaftVerkehrspolitik im Schatten des NS. APuZ, 73 (51-52/2023), S. 9-15.

Impuls für den nächsten Geschichtsunterricht: Kraftfahrtzeugführer auf dem Weg von Berlin in Richtung polnische Grenze passieren an der A12 ein großflächiges Hinweisschild mit der Aufschrift „ Autobahn der Freiheit“. Historisch weitgreifender wäre eine Ergänzung um ein weiteren Hinweis „gebaut von Zwangsarbeitern“. 4.000 Kilometer „Nur-Autostraßen“ waren dabei nur ein Element der NS-Programms zur Popularisierung des Autos. Detailliert und dennoch kurzweilig zeigt Andreas Knie in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) auf, wie die Nazis ab 1934 die „rechtlichen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen und kulturellen Grundlagen“ für den „Katapultstart“ der Autogesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg schufen. Wie zum Beispiel die Reichsgaragenordnung von 1939. All das und noch viel mehr im Artikel online unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/lokale-verkehrswende-2023/543680/deutschlands-weg-in-die-automobilgesellschaft/

Abb. oben: Werbeblatt für die Internationale Automobil- und Motorrad-Ausstellung 1933 in Berlin. Quelle: Knie (2023, S. 11).