Neue Einblicke in den inneren Zirkel der DDR-Führung in den 1970ern und 1980ern. Kurzer Booktok zu Band 2 der Autobiografie von Egon Krenz.
Krenz, Egon (2023): Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Berlin: Edition Ost. 446 Seiten, 26 Euro.
„Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers“ —- an dieses Bonmot der Historikerzunft erinnerte uns junge Studenten damals der Leiter des Universitätsarchiv Heidelberg, Prof. Dr. Werner Moritz. Verzerrte Wahrnehmung oder simple Erinnerungslücken führen dazu, dass zwei Menschen über ein identisches (historisches) Ereignis zwei bisweilen vollkommen unterschiedliche Erzählungen abliefern.
Gerade aus den inneren Zirkeln der Macht haben wir aber oft keine andere Informationen über informelle Abläufe und Entscheidungen, als die nachträglichen Schilderungen derjenigen Personen, die dabei waren.
Mit großer Spannung habe ich daher den medial groß angekündigten Band 2 der Erinnerungen von Egon Krenz erwartet. Ich war speziell an einem Vergleich der Darstellung vom November/Dezember 1989 durch prägende DDR-Akteure interessiert. Denn Gregor Gysi schildert in seiner Autobiografie folgende Begebenheit:
Am 4. November [1989, der bisher größten Demonstration in der DDR mit einer halben Million Menschen] auf dem Alexanderplatz hatte ich vor einer großen Öffentlichkeit dazu aufgerufen, Egon Krenz als neuen Generalsekretär des ZK der SED eine Chance zu geben. Vier Wochen waren seitdem verstrichen, Krenz hatte er seine Chance nicht genutzt. Er zeigte sich überfordert, und es war abzusehen, ihm würde kein Denken in neuen Dimensionen und kein Handeln in reformierten Strukturen gelingen — ich wollte ihn nun genauso fernsehöffentlich wie am 4. November zum Rücktritt auffordern. Tausende standen am 2. Dezember [1989], dem Tag der Kundgebung, vor dem ZK-Gebäude. Plötzlich erschien Egon Krenz. Es fiel mir in seine Anwesenheit schwer, aber ich sagte, was gesagt werden muss: ich erklärte, und das unter dem Beifall sehr viele Parteimitglieder [der SED] auf dem Platz, dass er zurücktreten müssen .
(Gysi, Gregor, 3. Auflage 2020, Ein Leben ist zuwenig. Die Autobiografie, Berlin: Aufbau Verlag, S. 273)
Und was sagt der gescholtene Egon Krenz dazu? Das akademische Jahr endet hier mit einer herben Enttäuschung. Band 2 der Erinnerungen beginnt 1973 und endet 1988. Gerade als es spannend wird, vertröstet uns der Autobiograf Krenz auf einen zukünftigen dritten Teil seiner Autobiografie. So besteht das Buch vor allem aus Anekdoten „für die Enkel“, Geschichten, über sicherlich bedeutsame Ereignisse und Entscheidungen in seiner Funktion als Chef des Jugendverbandes der DDR, der FDJ und später Mitglied im ZK der SED. Leider kratzen diese viel zu oft nur an der Oberfläche. Vieles bleibt unausgesprochen, so dass man sich mit Blick auf den Untertitel „Gestaltung und Veränderung“ fragt, worin denn die konkreten Veränderungen bestanden haben.
Konkreten Mehrwert bieten die Erzählungen bei einigen außenpolitischen Fragen, u.a. im Verhältnis China-DDR-UdSSR. Dazu aber mehr in einem weiteren Post im neuen Jahr.