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Geschichte

Fünf Päpste und 800 Jahre Weltgeschichte

An Ostern war ich in Rom. Dass Papst Franziskus wenig später den Folgen eines Schlaganfalls erliegen würde, war noch nicht absehbar, als ich über den Petersplatz schlenderte. Rom und Papst, das gehört seit fast 800 Jahren fest zusammen.

Auf meinem Flugticket stand BER(lin) – ROM(a). Auch zwischen deutscher Geschichte und Papsttum gibt es seit dem frühen Mittelalter ein reiches Füllhorn von politisch-kulturellen Verbindungen und nicht minder zahlreichen mannigfaltigen Konflikten. Wie immer geht es um Macht, Geld, Herrschaftsanspruch und kulturelle Hegemonie.

Hier sind die Namen von fünf Päpsten und ihre Bedeutung aus 800 Jahren Welt- und deutscher Geschichte: Leo III., Gregor VII., Alexander VII., Clemens VIII. und Pius IX.

Leo III.: ein spirituelle Gabentausch und die Erneuerung des Kaisertums

Der Vatikanstaat im Zentrum Roms erstreckt sich »heute« über kaum einen Quadratkilometer. Das war »damals« bis 1870 deutlich anders. Weite Teile Mittelitaliens zählten bis zur Gründung eines italienischen Nationalstaats zum weltlichen Herrschaftsgebiet des Oberhauptes der römisch-katholischen Kirche. Und bereits hier kommen »deutsche« Könige und Herrscher ins Spiel.

Petersdom, Zentrum des Vatikan; Ostern 2025, (c) Dr. Tim Jäkel.

Zunächst gelingt dem Christentum im antiken spätrömischen Reich unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert der Aufstieg zur Staatsreligion. Gleichzeitig wird jedoch die Hauptstadt des römischen Reiches nach Byzanz/Konstantinopel verlegt. Mit der Reichsteilung verliert Rom seinen Status als Residenz der Kaiser. Der Bischof von Rom kann so ungestört sein Vorrangstellung im Weströmischen Reich etablieren. Auch nach dem Untergang des Weströmischen Reiches 476 regiert er als Stadtherr Roms.

Der Vater Karls des Großen (Stichwort »erster Europäer« und Kaiserpfalz Aachen), Pippin »der Jüngere«, weitet das Herrschaftsgebiet des Papstes im 8. Jahrhundert deutlich aus. Seine »Pippinschen Schenkungen« vergrößern den Kirchenstaat auf weite Teile Mittel- und Norditaliens.

Papst und Kaiser (des heiligen Römischen Reiches) gehören nun fest zusammen. Der Papst krönt den Kaiser, der Kaiser sieht sich als Schutzherr des christlichen Glaubens im lateinischen Europa. Dieses System der gegenseitigen Macht- und Autoritätsbestätigung erlebt im 8. Jahrhundert seinen Höhepunkt, war aber schon damals nicht frei von latenten Konflikten.

»Am 25. Dezember 801 hatte [Papst] Leo III. Karl in St. Peter zu Rom zum Kaiser gekrönt. […] Ein neues Kaisertum trat ins Leben. Der erste Kaiser aus dem Volk der Franken eröffnete ein neues Weltzeitalter. [Allerdings] widersprachen die Zeugnisse zur Krönung aus dem Karlsreich und aus Rom einander und kündigten ein politisches Ringen zwischen Krönendem und Gekröntem an, zwischen Papst und Kaiser» (Fried, 2014, 499).

Krönung Otto III. im Jahr 962. In: C.C. Buchner, »Das Waren Zeit 1«.

Gregor VII.: wer ist mächtiger, Papst oder Kaiser?

Ernsthafte Machtkonflikte zwischen Kaiser und Papst tauchen auf unter dem Salier Heinrich IV. und Papst Gregor VII. Der berühmte Investiturstreit im 11. Jahrhundert ist ein Streit zwischen Papst und Königen darüber, wer von beiden die Bischöfe einsetzen darf. Wer also ist mächtiger und bedeutsamer, Papst oder König/Kaiser?

Q5 LB S. 21 C.C. Buchner »Das Waren Zeiten 1«: »Investitur eines Bischofs« aus dem Jahr 1175: in der Mitte gut zu erkennen ist der Stab des Bischofs, der ihm, dem Bischof (links) vom König (rechts, zu erkennen an seiner Krone und dem Zepter) zu seiner Amtseinführung überreicht wird. Die Quelle ist ein gutes Beispiel, wie man Personen und ihre Funktion an Symbolen und Herrschaftsinsignien erkennen kann.

Bekanntermaßen zieht Heinrich IV. den kürzeren und gibt klugerweise nach, in dem er sich auf einen ausgiebigen »Gang nach Canossa« macht.

»Heinrich IV. kniet vor Mathilde von Tuschen und bittet um Vermittlung in Canossa (links Abt Hugo von Cluny) (Rom, Bibl. Vat. lat. 4922, fol. 49r)«. Weinfurter, Stefan, 1992, Herrschaft und Reich der Salier, Sigmaringen, Thorbecke, Tafel 14.

Wichtig: der Papst übt bis zur Einheit Italiens und Pius IX. eine weltliche und ein geistliche Herrschaftsrolle aus. Er führt als weltlicher Fürst bzw. den Kirchenstaat (Vatikan) und als geistliches Oberhaupt die Gläubigen im lateinischen Europa.

Alexander VI.: Das Papstum in der Neuzeit: Kolonisierung, Ablasshandel und Kulturkampf

Die Bedeutung des Papst als Autorität in irdischen Dingen zeigt sich beim sog. Vertrag von Tordesillas, dem ersten internationalen Abkommen zur kolonialen Aufteilung der Welt. Papst Alexander VI. teilt 1494 im Vertrag von Tordesillas die »Neue Welt« am 46. Längengrad zwischen den aufsteigenden See- und Kolonialmächten Spanien (alles links des 46. Grades) und Portugal (alles rechts davon). Fun Fact: Deshalb spricht man heute in Brasilien Portugiesisch und in Kolumbien Spanisch. Einzige uneigennützige Bedingung des Papstes: die dortigen Einwohner sind zum Christentum zu missionieren.

Clemens VIII: Reformation und Aufklärung: wie antimodern ist die römisch-katholische Kirche?

Wenig später hinterfragt Luther in Schriften wie »von der Freiheit eines Christenmenschen« und seinen 95 Thesen den Ablasshandel des Papstes und damit dies gesamte Autorität der römisch-katholischen Kirche. Unethisches Verhalten der römischen Kirche in der alten und der neuen Welt markieren die Leitfrage in der Neuzeit für Aufklärer, Protestanten und Wissenschaftler: »wie antimodern ist das Papsttum?«. Die Untaten der katholischen Kirche gegen Fortschritt und und Aufklärung sind lang: der Prozess gegen Giordano Bruno, der das kopernikanische Weltbild erweiterte und verteidigte, fand in der Kirche Santa Maria sopra Minerva, schräg gegenüber vom Pantheon statt und endete mit dem Tod des Mönchs auf dem Scheiterhaufen. Der damalige Papst: Clemens VIII.

Liegt »heute« schon nicht mehr im Kirchenstaat: die Engelsburg in Rom. Das markante Gebäude wurde bereits in der Spätantike errichtet und diente den Päpsten im Mittelalter mal als Festung, mal als Gefängnis. (c) Dr. Tim Jäkel, 2025.

Pius IX.: »Der letzte Papst, der König war« – oder: Wie loyal steht die Kirche zur italienischen und deutschen Einheit?

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzen Mediatisierung und Säkularisierung, die Enteignung und z. T. Verstaatlichung von Kirchenbesitz gegen fürstliche Tantiemen, die katholische Kirche in Deutschland unter Druck. »So wie der Katholizismus als Religion zum Feindbild wurde, so wurde es auch der katholischen Klerus, die Ordensleute und der Papst.« (Fitschen, 2022, 16). Der Katholizismus erscheint als Hindernis einer (protestantisch) geprägten deutschen Einheit. Sinnbildlich für die Antimoderne im 19. Jahrhundert steht Papst Pius IX. Insbesondere der Orden der Jesuiten, dem auch Papst Franziskus angehörte, erfuhr radikale Ablehnung in liberalen gesellschaftlichen Kreisen, wurde bereits 1773 in Frankreich und erneut 1848 in der Schweiz sogar verboten.

Das Verhältnis zwischen (protestantisch preußisch geprägtem) Staat und Papst spitzt sich mit der Reichsgründung 1871 noch weiter zu und mündet im sog. Kulturkampf unter Bismarck.

Die konfessionelle Spaltung lässt sich auch im Parteiensystem bis in die Weimarer Republik nachverfolgen. Mit der katholischen Zentrumspartei gibt es eine explizite Abgrenzung, die in der Bundesrepublik erst durch die christlichen Unionsparteien aufgehoben wird.

Bereits diese fünf Päpste bieten reichlich Stoff für spannende Erzählungen. Man darf also gespannt sein, auf wenn sich das Konklave als nächstes Oberhaupt der katholischen Kirche einigt.

Zum Weiterlesen

Fitschen, Klaus, Katholische Kirche unter Druck, damals 4-2022, 16-21.

Fried, Johannes, 42014, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München: C.H. Beck.

Losert, Alexander, 2023, 1494: Die Könige der Welt, G-Geschichte 8/2023, 32-33.

Weinfurter, Stefan, 1992, Herrschaft und Reich der Salier, Sigmaringen: Thorbecke

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Geschichte

Soviel China steckt in Versailles

Zwei Sonnenkönige an entgegengesetzten Polen der Welt lernten voneinander – zum Nutzen beider Staaten und Völker.

Trinks, Stefan, 2025, Sonnenkönig in Chinas Schatten. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 4. Januar 2025, S. 9.

Mit keinem treffenderem Schlusswort hätte FAZ-Korrespondent Stefan Trinks seinen Bericht zur Ausstellungseröffnung »Die Verbotene Stadt und der Palast von Versailles« im Hongkonger Palace Museum in der Samstagsausgabe der FAZ (4. Januar 2025) schließen können. Austausch statt Decoupling!

Die Ausstellung im fernen Hongkong präsentiert anhand von mehr als 150 Exponaten den kulturellen Austausch zwischen dem absolutistischen Frankreich unter Ludwig XIV. und dem vierten Kaiser der Qing-Dynastie, Kangxi. Und einigermaßen spektakulär ist für europäische Ohren die Schlussfolgerung, dass

der gesamte französische Staat unter Ludwig XIV [mehr oder weniger] eine Kopie des chinesischen Kaisertums [ist!].

Trinks, 2025, S. 9

Die Form seines Absolutismus, seine Stilisierung zum Sonnenkönig, die Ballung der Macht in einem Palast, […] vor allem aber die Konzentration aller Adeligen [an einem Ort] – all das sind Übernahmen vom Kaiserhof Chinas [!]

ebd.

Unzählige Könige, Fürsten und Grafen in ganz Europa eiferten Sonnenkönig Ludwig XIV in seinem Herrschaftsmodell und vor allem seinem Schloss Versailles nach – und dieser hat sich alles vom Kaiser von China abgeschaut. Am offensichtlichsten wird dies beim Vergleich der verbotenen Stadt in Beijing mit dem Schloss Versailles.

Die »verbotene Stadt« in Beijing, heute für Besucher zugänglich. (c) Dr. Tim Jäkel, 2012.

China und die europäischen Aufklärer

Kaiser Kangxi war der vierte Herrscher der ursprünglich manjurischen Qing-Dynastie, die 1636 gegründet wurde und ab 1644 die Hauptstadt Beijing eroberten (Vogelsang, Kai, 82023, Geschichte Chinas. Reclam, S. 402-403.).

Dass sich gebildete Köpfe in Europa im 17. und 18. Jahrhundert für China begeisterten, ist nichts Neues. Jeder aufmerksame Spaziergänger im Potsdamer Park Sanssouci wird staunend den chinesischen Tee-Pavillon mit seinen vergoldeten asiatischen Figuren und Früchten bewundern. Friedrich II. veröffentlichte 1760 eine satirische Schrift zu China. Und jeder namhafte Aufklärer tat es ihm gleich. Kant pries das Reich der Qing-Dynastie als »kultiviertestes Reich der Welt«; Voltaire bezog sein Wissen über China aus jesuitischen Schriften und bewunderte Konfuzianismus und chinesische Kultur.

Kai Vogelsang hält die Begeisterung der europäischen Aufklärer für China allerdings für ein »gegenseitiges Missverständnis« (Ebd., S. 428). Seine Begründung: Europa verklärte China, weil es soweit entfernt war. Aus sicherer Distanz sei es für Montesquieu, Kant und Voltaire leicht gewesen, China als Land der Philiosophen-Kaiser zu bewundern.

Die Ausstellung in Hongkong zeigt indes ein anderes Bild: nicht Missverständnis, sondern handfester Austausch waren die Handlungsmaxime. Dabei war der Austausch etwa zwischen Frankreichs Ludwig XIV und Kangqi »keine Einbahnstraße«, [sondern] vielmehr ein gegenseitiges Nehmen und Geben«. Kanqxi und seine Nachfolger wollten auch vom Westen lernen, sie studierten das Dezimalsystem und sammelten wissenschaftliche Instrumente (Trinks, a.a.O.). Jesuiten-Missionäre bildeten in vielen Fällen den physischen Mittler, den Austausch und Netzwerkbildung benötigt.

Es ist äußerst lobenswert, dass die FAZ über diese aktuelle Ausstellung berichtet. Denn sie lenkt den Blick auf eine fruchtbare Epoche der Beziehungen zwischen China und Europa, als jene der imperialen Ausbeutung ab dem 19. Jahrhundert.

Herrschaft im Porträt: Umsetzung im Geschichtsunterricht

Geht es nach dem offiziellen Rahmenlehrplan in Brandenburg, lernen die Schüler nichts über Kultur und Gesellschaft Chinas. China taucht entweder auf als »Opfer« des westeuropäischen Imperialismus auf (Klasse 9), oder als »Diktatur« unter Mao und Akteur im Kalten Krieg (Klasse 12).

Herrschaft im Porträt: Ludwig XIV; Gemälde im Louvre; Von Hyacinthe Rigaud – wartburg.edu[toter Link], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=482613

Ludwig XIV lernen die Schüler idealerweise in Klasse 8 in Vorbereitung auf die Französische Revolution kennen. Als Bildquelle interpretiert wird dabei klassischerweise das Staatsporträt des Sonnenkönigs im Hermelinmantel (»Herrschaft im Porträt«).

Das ist zwar schön und gut, ist aber eine sehr enge Sicht auf die westeuropäische Welt. verstetigt aber nur die eurozentrische Sicht in der historischen Bildung.

Herrschaft im Porträt II: Kaiser Kangxi. Von Anonym Qing Dynasty Court Painter – Royal Academy of Arts, part of the The Three Emperors, 1662 – 1795 exhibition which ran from 12 November 2005 – 17 April 2006 in London. Website might be taken down at some point in future., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=773889

Bringen Sie also etwas China in den Lernraum! Lassen Sie die Schüler doch mal das Porträt des französischen absolutistischen Regenten mit dem des chinesischen vergleichen. Ein Unterschied liegt darin, dass »Ludwig sich dynamisch im Dreiviertelporträt dreht, während der Kaiser von China ausschließlich im strengen en face frontal abgebildet werden musste«. (Trinks, a.a.O.). Denn die beiden Gesichtshälften mussten symmetrisch sein, auf keine Stelle im Gesicht durfte ein Schatten fallen. Wenn Sie dann noch die Karte »Das China der Qing-Dynastie (17.–19. Jh.)« aus Christian Grateloups grandiosem Historischem Atlas »Geschichte der Welt« zeigen, ist schon viel an kulturellem Verständnis für das Reich der Mitte gewonnen.

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Brandenburg Frankfurt (Oder) Geschichte Lehren&Lernen

»Urbane Revolution«: Die Stadt im Mittelalter

Buchbesprechung zu Graichen, Gisela und Matthias Wemhoff, 2024, Gründerzeit 1200: Wie das Mittelalter unsere Städte erfand. Berlin: Propyläen. 457 Seiten, ISBN 978-3-549-10065-3, Hardcover, 29,00 Euro.

Die Journalistin Gisela Graichen und der Berliner Landesarchäologe Prof. Dr. Matthias Wemhoff haben sich zusammengetan und bringen uns in ihrem Buch die »urbane Revolution« wieder, die sich im Heiligen Römischen Reich um 1200 abspielt. Gemeint sind damit die unzähligen Neugründungen von Städten um 1200. »Die weitaus größte Zahl der Städte in Deutschland entstand im 12. und 13. Jahrhundert.« (Graichen und Wemhoff, 2024, S. 195).

Frankfurt an der Oder, Müncheberg, Straußberg, Potsdam, Brandenburg an der Havel, die mittelalterliche Doppelstadt Berlin-Cölln, Cottbus, Bautzen, Freiburg im Breisgau, Speyer und Worms wurden etwa zwischen 1100 und 1250 gegründet.

Die Neuerscheinung zeigt den enormen Beitrag, den die Archäologie als eigenständige Wissenschaft für die Geschichtswissenschaft leistet. Anhand von Fallbeispielen zu einzelnen Städten legen die Autoren in einem Dutzend Kapiteln frei, wie Deutschlands Städte bereits vor 800 Jahren ihre oft bis heute prägende Gestalt erhalten.

Ich greife für meine Besprechung aus dem Buch die Fallstudie zu Freiburg heraus. Anschließend übertrage ich die Befunde auf die Stadt Frankfurt an der Oder, die in dem Buch nicht explizit behandelt wird, in der ich aber aktuell lebe und arbeite.

Nicht zu übersehen: Das Freiburger Münster prägt bis heute die Freiburger Altstadt. (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.

Freiburg i. Bsrg. erhält sein Marktrecht und Gründungsprivileg urkundlich belegt im Jahre 1120 von Konrad von Zähringen:

»Kundgetan sei […] dass ich […], an einem Ort, nämlich Freiburg, einen Markt errichtet habe, im Jahr 1120 nach der Menschwerdung des Herrn«

(Graichen und Wemhoff, 2024, S. 196).

Kernanliegen der Gründung durch die Zähringer ist die Schaffung eines Marktes, insbesondere für das Silber aus dem angrenzenden Schwarzwald. Der Marktplatz Freiburg ist dabei wie jeder Stadt des Mittelalters ein durch eine Stadtmauer klar abgegrenzter Raum. Mauern und Tore zum kontrollierten Einlass sind markante Symbole einer mittelalterlichen Stadt. Innerhalb der Stadtmauern folgt der Aufbau von Freiburg dem Idealbild einer mittelalterlichen Stadt: von einer zentralen Hauptstraße entfaltet sich das Straßennetz, im Kern der Stadt befindet sich die Kirche und auf einer etwas bereiteren Straße ist der Marktplatz untergebracht. Bis auf den heutigen Tag erkennt der touristische Besucher diese 800 Jahre alte Grundstruktur.

Das Martinstor in Freiburg, eines von fünf mittelalterlichen Stadttoren. (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.

Freiburg trumpft durch zwei Besonderheiten auf: das Münster und das Bächle. Letzteres bezeichnet ein System von kleinen Kanälen zur Brauchwasserzufuhr bis an fast jede Haustür. Das Münster wird bereits ab dem 12. Jahrhundert als Pfarrkirche errichtet. Es ist das einzige gotische Bauwerk, dass noch im Mittelalter vollständig beendet wird.

Blick vom Freiburger Münster. (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.

Fazit: Die Denker der Aufklärung haben im 18. Jahrhundert die Fake News vom »dunklen Mittelalter« produziert, um ihre Ideen umso heller leuchten zu lassen. Graichen und Wemhoff legen ein gut lesbares Buch vor, dass die Innovationskraft der Städte für Gesellschaft des Mittelalters anschaulich macht. Sie liefern einen weiteren empirischen Beleg dafür, dass am Mythos vom finsteren Mittelalter nicht viel dran ist.

Anwendung für den Geschichtsunterricht

Die Anwendung für den (gymnasialen) Geschichtsunterricht liegt auf der Hand: erkunden Sie mit Ihren Kindern und Schülern ihre eigene Stadt. Welche mittelalterlichen Gebäude, Straßennamen und Strukturen in der Altstadt haben bis heute überdauert?

Als Einstieg bietet sich eine tagesaktuelle Stadtkarte an. In einem zweiten Schritt können Sie diese mit einem älteren Druck vergleichen lassen. Welche Gebäude von »damals« prägen das Stadtbild bis »heute«? Und in einem dritten Schritt können die Schüler die mittelalterliche Stadtgeschichte selbst erkunden. Wer macht das schönste Foto und/oder Selfie vor dem mittelalterlichen Rathaus, in der Schmiedegasse oder der ältesten Kirche der Stadt?

Faksimile Stadtansicht Francofurtum / Frankfurt an der Oder, um 1700. Unbekannter Autor.

Das funktioniert etwa mit Frankfurt an der Oder ganz hervorragend. Trotz der Zerstörungen durch den Fanatismus des Hitlerregimes prägen die mittelalterlichen Strukturen bis heute das Stadtbild. Reste der Stadtmauer wurden konserviert. Die Friedenskirche ist bis heute erhalten. Und das mittelalterliche Rathaus hat die Stadt für 32 Millionen sanieren lassen. Der Marktplatz ist auch heute Handelsplatz für lokale Nahrungsmittel (sofern wenn man Donnerstags vormittags Zeit zum Einkaufen hat …).

Rathaus der Stadt Frankfurt (Oder), 2024, (c) Dr. Tim Jäkel.
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Chemie Geschichte

»Das ist Aufklärung!« – die neue DHM-Ausstellung in sechs Exponaten

Das Zeitalter der Aufklärung, oder Erleuchtung (von englisch Enlightment) beschreibt eine Epoche neuen Denkens und wissenschaftlichen Arbeitens im 17. und 18. Jahrhundert. Das Deutsche Historische Museum (DMH) in Berlin teilt vom 18. Oktober 2024 bis Ende Februar 2025 erlesene Exponate aus jener Epoche mit seinen Besuchern. Für diesen Post habe ich sechs Exponate ausgewählt. Anhand dieser sechs zeitgenössischen Quellen beleuchte ich die neue DHM-Ausstellung.

1789 stürmten bewaffnete Männer und Frauen die Bastille im Herzen von Paris, in der Hoffnung, politische Gefangene der verhassten Bourbonen zu befreien, und – um in einem vor allem symbolischen Akt – ein Sinnbild des antidemokratischen Absolutismus zu bezwingen. In der Festung befanden sich zu diesem Zeitpunkt lediglich sieben Gefangenen. In sehr viel größere Zahl lagerte die Staatsmacht dort pornografische, politisch-satirische und philosophische Schriften, die den Argwohn der Zensur erregt hatten. Das Bild vom Sturm auf die Bastille avancierte zum Sinnbild der Französischen Revolution. Eine Reproduktion des Originalschlüssels der Bastille, unsere erste Quelle, erhielt George Washington, der erste Präsident der Republik USA später als Geschenk und Anerkennung für seine Leistungen bei der Etablierung der neuen Staatsform Republik in 13 ehemaligen britischen Kolonien.

Quelle 1: Schlüssel der Bastille, Reproduktion, 1789, Exponat des DHM.

Im gleichen Jahr 1789 veröffentlicht der umtriebige Chemiker Antoine Lavoisier seine Erkenntnisse über den Erhalt der Masse bei chemischen Reaktionen. Durch präzise Messungen mit einer sorgfältig geeichten Waage demonstriert Lavoisier in Experimenten, dass Masse etwa bei Oxidationen von Metallen nicht verschwindet, sondern in den Reaktionsprodukten erhalten bleibt. Lavoisier etablierte damit die Kernelemente moderner empirischer Wissenschaften: sorgfältiges beobachten, messen und wiederholbares experimentieren. Die Chemie geht in Folge dieser »Erleuchtungen« im 17. und 18. Jahrhundert den endgültigen Schritt von der mittelalterlichen Alchemie zur modernen Grundlagenforschung. Lavoisiers Präzisionswaage glänzt als Exponat und zweite Quelle unserer Zeitreise somit hell wie eine Stoffprobe oxidierenden Eisens.

Quelle 2: Präzisionswaage des französischen Chemikers Antoine Lavoisier, erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Exponat des DHM.

Friedrich II., König von Preußen, verkörpert den Prototyp eines »aufgeklärten Monarchen«. Er erkannte früher als andere Monarchen den Wert der importierten Nutzpflanze Kartoffel für die Ernährung seiner »Untertanen«. Er pflegte eine anregende, wenn auch nicht immer spannungsfreie enge Bekanntschaft, ein weiterer Modebegriff der Aufklärung, mit dem französischen Philosophen und Lästermaul Voltaire. Von dieser »wohlkalkulierten Freundschaft« (Kättlitz, 2024) erhoffte Voltaire sich Schutz (Voltaire handelte mit illegalen Wertpapieren), Renommee und Policy-Impact. Friedrich II. wiederum trieb ein durchaus aufrichtiges Interesse an den Idealen der Aufklärung. Die Figurengruppe Friedrich II und Voltaire, unsere Quelle 3, entstanden um 1767, aus der Volkstedter Porzellanfabrik veranschaulicht diese Bekanntschaft, die Friedrich den Spitznamen »Philosophenkönig« einbrachte.

Quelle 3: Figurengruppe Friedrich II. und Voltaire, 1767, Exponat des DHM.

In Preußen endete die Aufklärung bereits kurz nach dem Ableben des Alten Fritzen. Sein Sohn Friedrich Wilhelm II. erließ 1788 ein »erneuertes Zensur-Edict für die Preußischen Staaten exclusive Schlesien«. Die Verordnung schränkte die Presse- und Publikationsfreiheiten in Preußen wieder ein. Unsere Quelle 4 setzte damit einen Schlussstrich unter die lebhaften Debatten unter besitzenden und gebildeten Bürgern, die sich in Salons und Kaffeehäusern, in Büchern über Lüttich vertriebene Bücher, billigen Raubdrucken und Zeitungen vollzog.

Quelle 4: Zensuredikt von Friedrich Wilhelm II., 1788. Exponat des DHM.

Jochen Kalbitz merkt in seiner Ausstellungskritik in der FAZ zu Recht an, dass die Aufklärung bereits im 17. Jahrhundert anläuft. Als bestes Beispiel dafür dient sicherlich ein wegweisendes Werk des Briten John Locke.

Quelle 5: John Locke, 1690, Two Treaties of Government, Exponat des DHM.

In seinen »Zwei Abhandlungen über die Regierung«, die uns das DHM im englischen Original präsentiert (»Two Treatise of Government«), formuliert Locke bereits 1690 die Grundlagen der modernen Gewaltenteilung, die wir später in Montesquieus französischem Werk »Über den Geist der Gesetze« – in der Ausstellung natürlich ebenfalls zu bewundern in der französischen Originalausgabe »De L’Esprit des Loix« (Quelle 6) – wieder finden werden.

Quelle 6: Montesquieu, L’Esprit des Loix, 1749; Exponat des DHM.

Fazit: die Ausstellung teilt »atemberaubende« Exponate – wenn man historisches Vorwissen mitbringt. Schüler der Klasse 7 werden diese Begeisterung kaum teilen (können), dafür kommt die Ausstellung zu sehr im traditionellen Modus daher. Wer in Klasse 11 bereits Locke, Montesquieu, Rousseau mit Erkenntnisgewinn als Quellen analysiert hat, wird einige Aha-Effekte erleben.

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Brandenburg Geschichte Lehren&Lernen

Netzwerk mit Big Business: der Zisterzienserorden und das Kloster Neuzelle

»Die Zisterzienser spielen im christlichen Europa des zwölften Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Besonders wichtig ist ihr Einfluss im Zusammenhang mit der europäischen Expansion nach Osten, in Gebiete jenseits der Elbe. Die Gründung des Ordens geht auf den Bau des Mutter Klosters Citeaux ab 1098 zurück. […] Die zisterzienische Ordensregel beruht auf der Suche nach Abgeschiedenheit und der Autarkie der Abteien, aber auch auf einer solide, netzwerkartigen Organisation der Abteien untereinander.« (Grateloup, 2023, S. 159).

Ansicht auf die Klosteranlage von Süden. Quelle: Stiftung Stift Neuzelle, 2021.
Stiftung Stift Neuzelle (Hrsg.), 2021, Atlas des Zisterzienserstifts Neuzelle. 2. Auflage, Berlin: vbb. ISBN: 978-3-96982-023-0, 30,00 Euro.

Der einzigartige Stiftatlas des Klosters Neuzelle aus dem 18. Jahrhundert veranschaulich diese netzwerkartige Struktur der Zisterzienserklöster exemplarisch für 1268 gegründete Tochertkloster im heutigen Brandenburg, welches damals am Rande des Römischen Reiches liegt.

Der Atlas mit dem barocken Titel »General-Plan Neu-Zellischen Stiffts-Territorii« visualisiert und erfasst mit äußerstes Genauigkeit die Eigentums-und Besitzverhältnisse des Klosters im 18. Jahrhundert. Das Kloster zeigt sich im Atlas als wirtschaftlich autarke Organisation. Es wird deutlich, dass die Zisterzienser »eine sehr Weltzugewandte Mönchsgemeinschaft waren, […] die Himmel und Erde auf sehr produktive Weise miteinander zu verbinden« verstanden (Lindemann, 2021, V). 

Abb. 2. Herrschaftlicher Besitz des Klosters Neuzelle in Ziltendorf, Krebsjauche [das heutige Wiesenau] und Vogelsang. Mit dem Zeichen H gekennzeichnete Gebiete sind im Besitz des Klosters. Quelle: Stiftung Stift Neuzelle, 2021, [S.] 30. 

Die ursprüngliche Funktion des Neuzeller Stiftsatlas bestand darin, bestehende Grenzen von Feldern, Wiesen und Wäldern im Besitz des Stiftes aufzuzeigen und somit Rechtsverhältnis zu klären. Die Kloster Administration versuchte, durch die Vermessung des gesamten Stiftsgebietes ihre Herrschaft zu sichern (Crom, Klemp, 2021). 

Wie ein Netz ziehen sich Verbindungen von Neuzelle zu zahlreichen anderen Tochterklöstern. Kloster Neuzelle verfügt über umfangreiche Besitzungen und Ländereien im Gebiet des heutigen Landkreis Oder-Spree. Ich habe exemplarisch eine Karte mit der Stadt Fürstenberg an der Oder ausgewählt, heute ein Stadtteil von Eisenhüttenstadt.Gebiete, die mit dem Symbol H gekennzeichnet sind, befinden sich im Besitz des Klosters. Neuzelle bezieht wie gesamte Orden der Zisterzienser seine starke Stellung somit aus einem Netzwerk an Dependancen und seiner wirtschaftlichen Macht als weltlicher Grundherr — Sakrales Big Business.

Abb. 3. Herrschaftlicher Besitz des Klosters Neuzelle in Fürstenberg. Mit dem Zeichen H gekennzeichnete Gebiete (gelbe Färbung) sind im Besitz des Klosters. Quelle: Stiftung Stift Neuzelle, 2021, [S.] 31.

Die Karten im Atlas, der sich heute im Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin befindet, besitzen das Format 34,4 × 24,1 cm. Sie sind »auf Papier gezeichnet, koloriert und auf Leinen aufgezogen« (Crom, Klemp, 2021). Für die Mitte des 18. Jahrhunderts demonstriert der Atlas eine ausgezeichnete Messgenauigkeit. Es handelt sich damit für Historiker um eine »hervorragende Quelle für die Landeskunde des 18. Jahrhunderts« (Crom, Klemp, 2021). Der zweite Mehrwert liegt in der »Aura des Besonderen«

Das Haptische, dass In-den-Händen-Halten und sei es ein Faksimile, versetzt den Geist des Betrachters sofort in eine andere Zeit«. Das bringt dem Betrachter Freude und Genuss.

(Crom, Klemp, 2021)

Didaktische Umsetzung im Geschichtsunterricht

Wie lässt sich diese Begeisterung auf die Schüler im Geschichtsunterricht am Gymnasium nutzbar machen? Am besten mit einem kleinen Karten-Such-Quiz. Betrachten Sie die folgende Karte aus dem Atlas und begeben Sie sich auf die Suche:

  • Mit welchem lateinischen Namen bezeichnet die Karte Neuzelle?
  • Finden Sie die heutige Stadt Frankfurt (Oder) auf der Karte. 
  • In welcher böhmischen Kapitale befindet sich ebenfalls ein Kloster der Zisterzienser? 
Abb. 1: Lage der Kloster des Zisterzienserordens in Böhmen und der Lausitz (Lusatia). Quelle: Stiftung Stift Neuzelle, 2021, [S. I].
Klosterkirche Neuzelle, (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.

Referenzen

Crom, Wolfgang, Egon Klemp, 2021, Der Neuzeller Stiftatlas – ein hervorragendes Quellenwerk für die Landeskunde des 18. Jahrhunderts. In: Stiftung Stift Neuzelle (Hrsg.), Atlas des Zisterzienserstifts Neuzelle. 2. Auflage, Berlin: vbb, S. VII-IX.

Grateloup, Christian, 2023, Karte »Der Zisterzienserorden: Mutter und Töchter«. In: Ders., Die Geschichte der Welt. Ein Atlas. München: C.H. Beck, S. 159.

Lindemann, Rolf, [Vorwort]. In: Stiftung Stift Neuzelle (Hrsg.), Atlas des Zisterzienserstifts Neuzelle. 2. Auflage, Berlin: vbb, S. V.

Stiftung Stift Neuzelle (Hrsg.), Atlas des Zisterzienserstifts Neuzelle. 2. Auflage, Berlin: vbb.

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Brandenburg Geschichte

Klostergarten Neuzelle

Einen interessanten Blick auf auf eine bekannte Sehenswürdigkeit in Ostbrandenburg erlaubt uns der »Grund-Riss des Stiffts und Closters Neuzelle« im Atlas des Zisterzienserstift aus dem Jahr 1755 (Abb. 1). Das Original des Atlas befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin. Das moderne Kloster Neuzelle lockt die Besucher mit seinem Konventgarten (Abb. 2) und der Orangerie für die Überwinterung der Südfrüchte (Abb. 3).

Konventgarten im Kloster Neuzelle, (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.

Das Kloster Neuzelle liegt 4 km südlich der Stahlstadt Eisenhüttenstadt wurde wie die gleichnamige Gemeinde 1268 gegründet. Im Zuge der territorialen Neuordnung und des Reichsdeputationshauptschlusses wurde das Kloster 1817 aufgelöst. Es befindet sich heute im Besitz des Landes Brandenburg bzw. der Stiftung Neuzelle.

Organgerie des Konventgartens im Kloster Neuzelle, (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.

Die Zisterzienser lebten nach den Regeln des heiligen Benedikt von Nursia (6. Jahrhundert). Unzufrieden mit der laschen Entwicklung des gleichnamigen Benediktinerordens gründete sich im 12. Jahrhundert in der ostfranzösischen Stadt Citeaux der Orden der Zisterzienser. Der Orden breite sich in der Folge rasch bis an die Grenzen des damaligen Römischen Reiches aus.

Klosterkirche im Kloster Neuzelle, (c) Dr. Tim Jäkel, 2024.
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Tom Holland: Herrschaft

Die Osterferien bieten Zeit, neue Buchkäufe ausführlicher zu studieren. Dazu gehört Tom Hollands deutsche Paperbackausgabe von „Dominion. The Making of the Western Mind“ bei Klett-Cotta (2023, auf englisch zuerst 2019 bei Little, Brown erschienen).

Holland, Tom (2023), Herrschaft. Die Entstehung des Westens, Stuttgart: Klett-Cotta, 620 Seiten, 20 Euro. 

Der britische Autor Tom Holland bietet dem Leser in 21 Kapiteln eine anspruchsvolle, aber kurzweillige Reise in die Entstehung jener Weltbilder, die das ausmachen, was wir heute als den „Westen“ bezeichnen. Die rund 600 Seiten starten in der Antike und gehen über das Mittelalter („Christentum“) bis in die Neuzeit („Modernitas“). Als Einführungsbuch für Schüler der gymnasialen Oberstufe ist der Band jedoch nicht geeignet.

Ich habe zwei Kapitel herausgepickt, um den Charakter des Buches zu illustrieren: Kapitel VI Himmel und XIII Reformation. Die römisch-griechische Antike ist leider nicht (mehr) Gegenstand des Rahmenlehrplans in Brandenburg, die Reformation als Brücke in die frühe Neuzeit aber umso mehr. Kapitel VI umreist sprachlich sicher eloquent die Weltbilder und Konzepte, die das Denken eines (christlichen) Menschen im ausgehenden 5. Jahrhundert u. Z. prägen. In jener Zeit hatte „sogar das Wort religio seine Bedeutung verändert: Jetzt bezeichnete es das Leben eines Mönches oder einer Nonne“ (Holland, 2023, S. 178). So weit, so verständlich. Die weiteren Ausführungen darüber, welche Vorstellung, Glaubenssätze und Ängste die Menschen im lateinischen Europa bewegte, bleiben mir zu abstrakt und metaphysisch. Für die Unterrichtsvorbereitung lassen sich aus diesem Kapitel Erkentnisse nur sehr schwer didaktisch reduzieren.

Deutlich besser gefällt mir das Kapitel XIII über Reformation in Europa. Auch hier setzt Holland implizit Grundlagenwissen über historische Fakten und Prozesse voraus. Was Luther auch über den deutschen Tellerrand und die Konfessionen hinaus bewirkte, wird kognitiv anregend beschrieben – wer der Augustinermönch und Professor für Bibelauslegung in Wittenberg war, sollte man vorher schon mal gehört haben. Das gleiche gilt für Thomas Müntzer, dem Holland – und das ist positiv hervorzuheben – ebenso Raum gibt, wie den Gedankengängen von Heinrich VIII in England und Johannes Calvin in Genf.

Äußerst positiv fällt die professionelle Arbeit des Verlags bzw. der Übersetzer auf. Für die englischsprachigen Quellen hat der Verlag jeweils deutschsprachige Veröffentlichungen herausgesucht und im Fussßnotenapparat ergänzt. So viel Mühe macht sich heute kaum noch jemand.

Hollands Buch liefert neue Einsichten und baut gedankliche Brücken zwischen Dingen, die man wusste, aber eben noch nicht in einen Zusammenhang gestellt hat. Aber es erfordert, wie gesagt, einiges Vorwissen. Insgesamt ein Nice-to-Have, aber keine Pflichtlektüre.

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Geschichte

Neu im Buchregal: „Die Brandstiftung“ oder Die Nacht, in der die Demokratie unterging

Heute vor 91 Jahren, am 27. Februar 1933, brannte der Reichstag in Berlin. Für die Nazis bot die Brandstiftung die einmalige Gelegenheit, ihren Terror gegen politische Gegner offen auszuüben und ihm gleichzeitig einen legal-juristischen Anstrich zu geben. 

Am Tag darauf, dem 28. Februar 1933, erließ Reichspräsident und Antidemokrat Hindenburg die sog. Reichstagsbrandverordnung (Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat). Nur wenige Wochen danach stimmte eine Mehrheit der noch verbliebenen Reichstagsabgeordneten dem sog. Ermächtigungsgesetz zu – und schaffte sich damit selbst ab.

„Strategie der Spannung“: Wahlplakat der NSDAP zur Reichstagswahl am 5. März 1933. Quelle: Topografie des Terrors. Eine Dokumentation. 5. Aufl. 2018, S. 19

Es gibt wohl kaum ein aktuelleres Thema im Geschichtsunterricht zur NS-Herrschaft in Klassenstufe 9 und 11. Neue Impulse für Dozenten und Lehrkräfte bietet die Neuerscheinung von Uwe Sokoup im Heyne-Verlag.

Soukup, Uwe (2023): Die Brandstiftung. Mythos Reichstagsbrand - was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging. München: Heyne, 208 Seiten, 22 Euro. 

Uwe Soukup legt in seinem aktuellen Buch „Die Brandstiftung“ eine Auseinandersetzung mit dem „Mythos Reichstagsbrand“ vor.

„Unbestritten […] ist die Tatsache, dass der Reichstagsbrand von den Nazis sehr effektiv genutzt wurde, um ihre Diktatur und damit ihren Terror zu installieren. Über die Frage aber, ob die Nazis, den Brand, den sie so gut nutzt, auch selbst gelegt hatten, wird seit Jahrzehnten gestritten.“

(Soukup, 2023, S. 10)

Lange hielt und hält sich in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung die Einzeltäterthese, wonach der geistig verwirrte Marinus von der Lubbe an mehreren Orten im Reichstag Feuer gelegt haben soll. Soukup zerpflückt in seinem kurzweiligen Buch alle entsprechenden Behauptungen. Leider verzichtet Soukup auf Belegstellen für seine zahlreichen Verweise auf die Quellen und die Fachliteratur. Ein Belegapparat einschließlich Literaturverzeichnis hätte das lesenswerte Buch zusätzlich aufgewertet. So bleibt der Befund, dass „eine naturwissenschaftlich, unhaltbar These es schaffen konnte, die Geschichtsschreibung dieses für die endgültige Eroberung der absoluten Macht durch die Nazis zentralen Vorgangs über Jahrzehnte zu dominieren“ (Soukup, 2023, S. 171). 

„Die Weimarer Republik fand nicht am Tag der Macht Übertragung an Hitler ihr Ende, am 30. Januar 1933 – sondern am 27. Februar 1933, als in Berlin der Reichstag Opfer der Flammen und Hitler unumschränkte Diktator wurde.“

(Soukup, 2023, S. 9)

Und schon Egon Erwin Kisch, der wie auch Erich Mühsam, Carl von Ossietzky und viele andere bereits am 28. Februar 1933 von den Nazis verhaftet wurde, wusste und publizierte im April 1933: 

„Cui prodest – wem sollte die Taten nützen? Antwort: Dem, dem sie genützt hat. Dem, der durch sie seine parlamentarischen Gegner vom Parlament ausschließen, dem, der die gegen ihn kämpfende Arbeiterschaft schwächen, dem, der seinen Anhänger damit das längst versprochene Fest der langen Messer bieten wollte. Dem Nationalsozialismus.“

Kisch, Egon Erwin (1983 [1933]), „Der Reichstagsbrand“. In: Uhse, Bodo; Kisch, Gisela: Kisch, Egon Erwin. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. IX. Mein Leben für die Zeitung. 1926-1947. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 337-342.
ursprünglich erschienen in: Der Reichstagsbrand – Der Gegen-Angriff, 1. Jg., Nr. 1, Prag, Ende April 1933, S. 5
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Geschichte Lehren&Lernen Man spricht Deutsch

Neu gelesen: Fabian oder Der Gang vor die Hunde

📉. Vor wenigen Tagen, am 23. Februar, hätte Erich Kästner seinen 125. Geburtstag begangen. Aufmerksame Buchhändler haben daher am Wochenende die zahlreichen großen (das doppelte Lottchen) und kleinen Klassiker (ein kleiner Grenzverkehr) des Autors für große (Drei Männer im Schnee) und kleine Leser (Emil und die drei Zwillinge) prominent im Eingangsbereich ihrer Buchläden positioniert.

Sollte in keiner Bibliothek fehlen

Mir hatte es die „ungekürzte“ 😯 Urfassung von Kästners „Meisterwerk“ Fabian angetan, die „es so noch nie zu lesen gab“ (Verlagswerbung auf dem Cover). Wer kann da vorbeigehen, wenn er sich auch nur grob an die Handlung des also offensichtlich entschärften Fabian erinnert! Ich nicht. Ich hatte den Roman vor vier, fünf Jahren gelesen und wollte ihn immer im Geschichtsunterricht einsetzen, um die nicht so goldenen Seiten der Weimarer Republik zu illustrieren. Nach den ersten Dutzend Seiten zeigt sich Berlin aus Kästners Feder tatsächlich (wieder) als „Moloch der Moderne“. Ich erinnere mich noch, dass Fabians Ende in der Urspungsfassung anders ausgehen sollte. Bin also gespannt, ob Herr Fabian nicht einfach ertrinkt …

Lehrer haben vormittags Recht und nachmittags frei
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Geschichte Lehren&Lernen

Auf dem rechten Auge blind

In meiner Alma Mater, der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, gibt es einen Emil-Gumbel-Saal. Dieser erinnert an den Statistikprofessor Emil Gumbel, der bis 1932 in Heidelberg lehrte. In meinem aktuellen Wohnort Frankfurt (Oder) gibt es ein Karl-Liebknecht-Gymnasium, eine Karl-Liebknecht-Straße und Karl-Liebknecht-Street Art (siehe oben).

Was verbindet den Antimilitaristen und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Karl Liebknecht, mit dem Heidelberger Statistikprofessor Emil Gumbel?

Zum einen ihr beherztes Engagement gegen den Ersten Weltkrieg, die „Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts“. Liebknecht hatte als einziger SPD-Reichstagsabgeordneter den Schneid, bei der zweiten Abstimmung im Oktober 1914 gegen die Kriegskredite zu stimmen, die Streben des kaiserlichen Deutschlands nach einem „Platz an der Sonne“ überhaupt erst möglich machten. Seinen Einsatz gegen das Gemetzel an der Front teilte er mit Gumbel, der sich nach seinen eigenen Erfahrungen in der Armee publizistisch aktiv gegen den Krieg einbrachte.

Zum anderen war Gumbel einer der Ersten, der den Mord der rechtsextremen Freikorps an Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1919 publizistisch aufdeckte. Seine Monografie „vier Jahre politischer Mord“ führte der breiten Öffentlichkeit der jungen Weimarer Republik vor Augen, wie Antidemokraten und Rechtsextreme unbehelligt von der Weimarer Justiz ihre politischen Gegner ermordeten. Gumbel führte seine Studien der Gerichtsakten in den 1920er Jahren fort und brachte 1929 einen, sozusagen, Fortsetzungsband heraus.

Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis hat die 1929 erschienene „Schrift von Emil Julius Gumbel mit dem Titel Verräter verfallen der Feme. Opfer / Mörder / Richter 1919-1929“ mit dem Herausgeber Carsten Pfeiffer in einem gebührenden Rahmen neu veröffentlicht.

Die Publikation eignet sich in hervorragender Weise für den Geschichtsunterricht der gymnasialen Oberstufe, um in Klasse 11 das Lernfeld Weimarer Republik vertieft zu behandeln.

Bei Gumbels Schrift handelt es sich formal um eine historische Quelle; diese gewinnt durch ihre klare Struktur und ihre empirisch-gesättigte Argumentation den Charakter eines darstellenden Textes über die Stützen der Weimarer Gesellschaft. Der Herausgeber Carsten Pfeiffer erweitert Gumbels eigentlichen Text um ein prägnantes Vorwort und ein einordnendes Nachwort von Dietrich Heither.

Gumbel unterteilt seine 400 Seiten umfassende Schrift in die politischen Morde und Femenmorde 1919/20; die Attentate der Organisation Consul – der Nachfolgeorganisation des Kapitän Erhardt, welche die ehem. Freikorpsoldaten sammelte und organisierte – sowie die Morde bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik. Der zweite Teil analysiert politische Morde in Oberschlesien sowie das Wirken der „Schwarzen Reichswehr“ in der zweiten Phase der Weimarer Republik. Gumbels Studie schließt mit einer Abschnitt über kommunistische Morde an politischen Gegnern.

George Grosz, 1926, Stützen der Republik. In: C.C. Buchner, Geschichte 11/12.

Gumbel beginnt seine Abhandlung mit einem Exkurs in das Legalitätsprinzip und einer Klärung der Begrifflichkeit:

Der politische Mord liegt dann vor, wenn politische Beweggründe subjektiv für die Entschlussfassung zur Tat maßgeblich waren, oder wenn objektiv die Tat eine politische Wirkung hatte. […] Es kommt […] nur auf die subjektive Annahme des Täters an, der etwa im Opfer, seiner politischen Richtung oder klassenmäßigen Einstellung nach, einen Schädling, einen politischen Gegner, einen Spitzel oder einen Verräter sieht.

Gumbel, 2023, S. 22

Die höchste Form des organisierten politischen Mordes ist der Fememord, […] der aufgrund eines Spruchs oder eines Befehls, einer bestimmten Gemeinschaft oder ihres Leiters in Ausübung einer privaten, selbst herrlichen ‚Justiz‘ […] verübt wird.“ Die Feme ist „die Gruppe, welche solche Taten in gemeinsamen Willen vorbereitet oder ausübt.

Gumbel 2023, S. 25

Nüchtern-sachlich spricht die historische Quelle, d.h. die Ergebnisse Gumbels aus dem akribischen Studium der Verfahrensakten der Gerichtsprozesse, für sich:

[I]n Deutschland [sind] seit dem Jahre 1919 bis zur Ermordung [Walther] Rathenaus [im Juni 1922] 376 politische Morde vorgekommen. Davon sind 354 von Rechts, 22 von Links begangen worden. Nur ein Mord von Rechts wurde gesühnt: der Mord an Rathenau. Alle anderen blieben ungesühnt. […] Von den Linksmorden wurden 17 gesühnt, 5 blieben ungesühnt. […] Die angeführten Zahlen [sind] nur minimal Zahlen.

Gumbel, 2023, S. 30-31.

Das Oberstufenlehrbuch von C.C. Buchner enthält dazu von Gumbel bereits eine Tabelle als empirisches Quellenmaterial sowie eine gute Karikatur aus dem Berliner „Ulk“ von 1927.

C.C. Buchner Verlag. Geschichte 11/12, S. 205.

Lehrkräfte und Dozenten werden in der neu aufgelegten Publikation weiteres reichhaltiges Unterrichts- und Klausurmaterial für den Anforderungsbereich III finden. Einige Beispiele für Aussagen, die zur Bildung eines Werturteils anregen:

Der politische Mord wird das große und schließlich erfolgreiche Kampfmittel der sozialen Reaktion und seiner Basis, des Groß Kapitals. Zunächst wandte es sich gegen die Führer des Sozialismus, dann gegen diejenigen, bei denen die „Gefahr“ bestand, dass ihr Wirken die Republik wirklich zu einem neuen Staat machen würde. Dann kamen Morde, welche die Arbeiterschaft provozieren sollten.

Gumbel, 2023, S. 34

Es folgt keine Aufklärung des Mordes. Der Grund hierfür ist die monarchische und kapitalistische Einstellung der Verwaltung und der Justiz. […] Für das Verständnis bedarf es einer Klarstellung der sozialen Funktion der Gesetze. […] Sie sind vielmehr Zeit bedingte Ergebnisse der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse, und ihr Zweck ist es, diese zu sichern.

Gumbel, 2023, S. 36.