Manow, P., (Ent-)Demokratisierung der Demokratie: Ein Essay. edition suhrkamp. 2020, Berlin: Suhrkamp. Ebook. 170 Seiten. eISBN 978-3-518-76552-4.
Zum Autor: Philip Manow ist Professor für Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Bremen und leitet das dortige SOCIUM Research Center on Inequality and Social Policy. Vorher hatte er kurzzeitig Professuren in Heidelberg (Politische Theorie) und in Konstanz inne.
Nach seiner „Theorie des Populismus“ (2018, ebenfalls im Suhrkamp Verlag) beschäftigt Manow sich in seinem aktuellen Buch mit etwas Paradoxem, nämlich dass demokratische Gesellschaften einerseits immer demokratischer werden, aber die Demokratie gleichzeitig immer undemokratischer wird. Er nennt sein Buch im Untertitel einen Essay, aber das trifft m. E. nur auf die hintere Hälfte des Buches zu.
Der breitere Kontext des Buches ist die Diskussion über die Krise der Demokratie (so das Buch von Adam Przeworski von 2019), über Populismus, die Klagelieder über die abnehmende Bindewirkung der „etablierten Parteien“ und „Wutbürger“, also Menschen, die am öffentlichen Leben nicht mehr bewusst teilhaben wollen oder können, aber dann manchmal doch auf Demonstrationen auftauchen und auf Telegram Dinge gut finden, die man als politisch inkorrekt bezeichnet.
Die Argumentation und zentralen Befunde des Buches: Im ersten Kapitel führt uns P. Manow knapp 250 Jahre in der Geschichte (der Demokratie) zurück ins 18. Jahrhundert: In eine Zeit, in der der Demokratie zuerst Nichtherrschaft des Volkes bedeutete. „Die Frage der Demokratie lautete […] zunächst, wie das Volk regiert, ohne dass das Volk regiert“ (S. 24) Die Lösung des Problems, wie man das gemeine Volk von der Herrschaft ausschließt, war die Idee der Repräsentation. „Demokratische Repräsentation war also ursprünglich die Lösung eines Problems, das ‚Pöbel‘ oder ‚Menge‘ heisst“ (S. 24). Das hatte zwei Dinge zur Folge: zum einen gibt es in der repräsentativen Demokratie immer eine potentielle Repräsentationslücke, das bedeutet, die Vertreter des Volkes vergessen ihre Wähler. Zum anderen stellen sich die politischen Entscheider die Frage: Wer ist eigentlich repräsentierbar, und wer nicht? Volk ist aber nicht gleich Pöbel; Pöbel ist im zeitgenössischen Diskurs, wer außerhalb der Ehre der Arbeit steht. „Für Kant rechtfertigte das unbürgerliche Verhalten den Ausschluss von der politischen Teilhabe“ (S. 26). Bei Marx und Engels läuft das unter dem Begriff Lumpenproletariat. Die Idee der Volksrepräsentation verstanden als Exklusion des Pöbels – das war im 18. Jahrhundert transatlantischer (intellektueller) Konsens (E. Burke, Ch. Madison, u.a.).
Aus dem 18. Jahrhundert geht es dann zurück ins 21. Jahrhundert. Heute wählen viele Menschen D. Trump. Das gefällt nicht allen. P. Manow weist aber darauf hin, dass man nicht „eine ganze Wählerschaft für getäuscht, unzurechnungsfähig oder moralisch verkommen“ erklären kann, methodisch nicht und demokratietheoretisch nicht (S. 12).
P. Manow diagnostiziert, wie viele andere, die er ausgiebig zitiert und belegt, eine „Krise der Repräsentation, der Funktions- und Legitimationsverlust bewährter Artikulations- und Repräsentationsinstanzen (der politischen Parteien, der Parlamente, der Presse)“ (S. 15). Dabei macht P. Manow deutlich: „Die Populisten sind nicht das Problem der repräsentativen Demokratie […] Sie zeigen nur, dass sie eins hat“ (S: 16). „Die Demokratie, wie wir sie bislang kannten, funktioniert nicht mehr richtig.“ Funktionskrise bedeutet, das Prinzip „repression by government funktioniert nicht mehr wie gewohnt“ (S. 34). Es gibt zwei gleichzeitige, je nach Geschmack paradoxe oder dialektische, Entwicklungen: einerseits Demokratisierung, andererseits Entdemokratisierung. Diese Gleichzeitigkeit ist die „paradoxe Folge des Sieges der Demokratie über aller alternative Formen der Herrschaftslegitimation“ (S: 17). „Demokratisierung bezeichnet schlicht die Ausweitung von Partizipationschancen bzw. den Kollaps tradierter Exklusionsmechanismen.“ (S. 17) In der „demokratischen Demokratie“ gibt es also eine „massive Ausweitung von Chancen zur politischen Partizipation und Kommunikation“ (S. 39). Das Problem der Demokratisierung der Demokratie ist dabei das Problem der Partizipation ohne Repräsentation und der beständigen Ausweitung dieser Partizipation, so P. Manow (S. 35). „[D]ie Primärfunktion der Repräsentation [war] zunächst [die] Exklusion [des sog. Pöbels] (S. 40); und der meldet sich jetzt immer mehr zu Wort, weil es immer mehr Partizipationsmöglichkeiten gibt. „Die Zugangshürden für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs sind drastisch gesunken.“
Die These von P. Manow lautet, dass diese Ausweitung der Partizipationschancen die Demokratie „zu bedrohen scheint“. Das ist aber das Paradoxe, es gibt Demokratisierung und Entdemokratisierung gleichzeitig. Das erste geht mit dem zweiten einher, u.a. deshalb, weil der Staat an Bedeutung verliert, er hegt Interessenkonflikte und öffentlichen Diskurs nicht mehr so ein wie früher (S. 116). „Der Pöbel kehrt lautstark wieder, weil die Macht keine Integrationsangebote mehr unterbreiten will oder kann“ (S. 116). Wenn man heute nicht mehr beschränken kann, wer mitentscheidet, dann kann man aber immer noch beschränken, über was entschieden wird“ (S. 37). Damit ist sozusagen die technokratische Lösung gestiegener partizipatorischer Erfordernisse demokratische verfasster Gesellschaften umschrieben.
Kommentare und Anmerkungen zum Buch: Bis 1989 bzw. 1991 konnte sich „die Demokratie“ als bessere Alternative zu anderen Herrschaftsformen z. B. in der DDR, der Sowjetunion, in China, Jugoslawien oder Südafrika präsentieren. Heutzutage, so P. Manow, „droht der Demokratie Gefahr nur noch von der Demokratie selber“ (S. 93) P. Manows Buch zielt also auf das „Binnenverhältnis“ der Demokratie ab, und ist insgesamt auch überzeugend. Allerdings kontrastiert es auch mit einem anderen Trend in der vergleichenden Forschung zu politischen Systemen. Denn was ist mit den sog. neuen Willkürherrschaften (new despotism), wie sie John Keane in seinem Buch von 2019 bezeichnet hat? Laut Keane sind diese scheinbar attraktiven alternativen Formen von Herrschaftslegitimität ja so gefährlich, wie sie demokratische Praktiken erfolgreich imitieren und gleichzeitig scheinbar besser „liefern“. Also, gibt es doch wieder scheinbar verlockende alternative Herrschaftsformen, mit denen sich die liberalen Demokratien herrlich in ihrem Außenverhältnis beschäftigen können? Denn genau das tun sie mit größter Inbrunst und Wonne, siehe Hongkong und Belarus.
Der Gewinn an P. Manows Buch ist, dass sich genau auf das Binnenverhältnis der Demokratie konzentriert. Der erste Teil des Buches argumentiert klar und überzeugend. Und P. Manow belegt seine Aussagen kurzweilig und detailliert an den Beispielen Corbyn, Trump und Macron, also an empirischer Evidenz aus Kerndemokratien. Der zweite Teil des Buches ist dann tatsächlich ein Essay, ohne eindeutige Fragestellung und mit zu vielen losen Enden.
Insgesamt aber ein lesenswerter und interessanter Beitrag zur politischen Theorie demokratischer Gesellschaften in der westlichen OECD-Welt.