Dr. Julia Pasko, Associate Professor an der Higher School of Economics, hatte mich gestern Abend eingeladen, an Ihrem Deutsch-Klub teilzunehmen und die Bundestagswahl 2017 zu kommentieren. In ihrem Deutsch-Klub am Institut für Deutsch als Fremdsprache an der HSE treffen sich alle zwei Wochen Studenten und Dozenten der HSE, dem ebenfalls renommierten Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) und eingeladene Referenten und diskutieren aktuelle Themen aus Deutschland und Russland – und zwar ausschließlich auf Deutsch!
Ich bin der Einladung sehr gerne gefolgt, hier ist, was ich gesagt habe:
Guten Abend, meine Damen und Herren,
vielen Dank für Ihre Einladung. Ich freue mich sehr, heute an Ihrem Deutsch-Klub teilzunehmen.
Ich werde fünf Einschätzungen und Thesen zur Bundestagswahl 2017 vorstellen. Das sind meine persönlichen Einschätzungen, sie geben keine offizielle Position der HSE wieder.
1. Fakten und Voraussetzungen: Wir beginnen mit den Fakten.
Das Wahlrecht zum deutschen Bundestag ist ein personalisiertes Verhältniswahlrecht.
Die Hälfte der Angeordneten-mandate wird in den 299 Wahlkreisen vergeben.
Die restlichen 50 Prozent proportional zu den Zweitstimmen über die Landeslisten.
Es ist kein reines Verhältniswahlrecht (proportional).
Aber auch nicht wie in Großbritannien: the winner takes it all.
Landeslisten heißt nicht wie in USA Wahlmänner (indirekte Wahl).
Landeslisten bedeutet: ohne Partei hat eine Person praktisch keine Chance, in den Bundestag einzuziehen
Das deutsche Wahlrecht zum Bundestag hat bzw. führt in der Realität zu zwei Eigenheiten:
Überhangmandate (so viele wie noch nie zuvor) und Ausgleichsmandate
Der Bundestag wird immer grösser.
Der neue Bundestag hat 709 Mitglieder statt eigentlich 598 (299 Wahlkreise).
Gewinnt eine Partei sehr viele Direktmandate, ist sie stärker bei den Erststimmen, als bei den Zweitstimmen, erhält sie Überhangmandate.
(„Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei bei der Wahl zum Bundestag mehr Direktmandate über die Erststimmen erhält, als ihr Sitze im Bundestag gemäß der Anzahl der Zweitstimmen zustehen. Das hat zur Folge, dass der Bundestag sich über die vorgesehene Anzahl von 598 Mandate[n] hinaus erweitert.“ https://www.bundestag.de/service/glossar/glossar/U/ueberh_mandate/245552)
Ausgleichsmandate gleichen Überhangmandate aus, sie gibt es seit 2013.
Die zweite Eigenheit ist die 5 Prozent Klausel
Sie hält kleinere Parteien (rechtsextreme, linke und religiöse Sekten; Piraten und Rentnerparteien, vor 4 Jahren auch die FDP) aus dem Bundestag.
1. Erstimmenmehrheiten
Abb. 1 zeigt die Erstimmenmehrheiten in allen 299 Wahlkreisen.
(Karte Erststimmen)
Die Abb. hält vier relevante Informationen bereit:
1. Kandidaten der Unionsparteien haben die meisten Direktmandaten geholt, mit unterschiedlich großem Abstand zum nächsten Bewerber.
Bayern spielt eine Sonderrolle: In Bayern schwanken die Abstände zum nächsten Bewerber nicht so stark, sie sind homogener und auf deutlich höherem Niveau.
D. h. in Bayern gewinnt niemand gegen die CSU ein Direktmandat.
(Außerhalb Bayerns gibt es stärkere Schwankungen.)
(Der Parteienwettbewerb ist in Bayern schwächer als in den anderen Bundesländern.)
Kandidaten der Unionsparteien sind, mit Ausnahme von Niedersachsen im ländlichen, Raum am erfolgreichsten.
2. In einigen wenigen Wahlkreisen in Nordrhein Westfalen und Niedersachsen ist die SPD noch so stark, dass sie Direktmandate holt.
(In Salzgitter (NDS) beträgt der Abstand des SPD-Kandidaten zur CDU 13,7 %.)
(In Hersfeld / Rotenburg (Wahlkreis) (NDS) 11,2 %.)
(In Bochum Herne II (NRW) betragt der Abstand zur CDU 17,7 Prozent.)
(Diese Beobachtung deckt sich auch mit dem relativen Sieg der SPD bei der Niedersachsen-Landtagswahl)
3. Die AfD holt drei Direktmandate, alle drei in Sachsen.
Das ist außergewöhnlich und demonstriert die regionale Stärke der Partei in Sachsen.
Im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Ostererzgebirge beträgt der Abstand bei den Erststimmen zum CDU-Kandidaten 8,6% (petrolfarben).
4. Die Partei die LINKE holt 5 Direktmandate, vier in Berlin und eins in Leipzig II (Wahlkreis).
5. Die Grünen holen ein Direktmandat in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg.
2. Ergebnisse nach Zweitstimmen
Die Grafik hält vier Informationen bereit:
1. CDU (26,8 Prozent) und CSU (6,2 Prozent) bilden im Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft, sind stärkste Kraft gemessen an den Zweitstimmen.
Die SPD kommt auf Platz 2, gemessen an den Zweitstimmen.
Es folgen AfD (12,6), FDP (10,7), Linke (9,2) und Grüne (8,9).
2. Alle drei Regierungsparteien haben im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 deutliche Verluste bei den Zweitstimmen erlitten:
CDU (-7.4 Prozentpunkte) und CSU (-1.2 Prozentpunkte).
Die SPD hat Verluste erlitten (-5.2 Prozentpunkte).
Der hohe Verlust an Zweistimmen bei den Unionsparteien ist für mich eine Überraschung.
Das schlechte Abscheiden der SPD ist keine Überraschung, das stand vorher fest.
3. Die AfD ist drittstärkste Kraft gemessen an den Zweitstimmen.
Ich habe hier an gleicher Stelle im April auf der Konferenz „Welt und Wissenschaft“ bereits gesagt: die Flüchtlingskrise führt zu politischen Verwerfungen. Und das ist so eine politische Verwerfung.
Die Überraschung ist, dass die Partei trotz der Kampagnen gegen sie, und trotz ihrer internen Querelen (mit mehreren Putschen) 12,6 Prozent der Zweistimmen erhalten hat.
Ideologisch und auch personell (A. Gauland) kommen Teile der AfD aus der hessischen CDU. Es gibt Personen aus dem offen rechtsextremen Spektrum (v. a. Sachsen). Weitere Ursprünge hat die Partei in der Kritik an der megaexpansiven Geldpolitik und der Staatsfinanzierung der EZB durch Anleiheankäufe.
Die scharfen öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Partei sind sowohl ideologischen Konflikten (links-rechts) als auch dem Parteienwettbewerb um Wählerstimmen geschuldet.
FDP, Linke und Grünen widmen wir aus Zeitmangel keine weitere Analyse.
3. Schlussfolgerungen
Ich gebe eine konkrete Prognose ab:
Es wird jetzt eine Jamaika-Koalition aus vier Parteien geben: CDU, CSU, Grünen und FDP.
a. Die Verhandlungsmasse ist mit prognostizierten ca. 40 Milliarden Steuermehreinnahmen im Bundeshaushalt bis 2021 groß genug für eine Einigung (Befriedigung von Partikularinteressen, dazu zählen Subventionen für erneuerbare Energien, e-Cars und Abschaltprämien für Kohlekraftwerke). Das ist der Hauptgrund.
b. Anderen Konstellationen klappen nicht; es reicht nicht für Schwarz-Gelb
c. Es gibt auf Landesebene bereits Testläufe dieser Konstellation, u.a. in SH, und BW.