Russland will ein Gesetz zur
Veröffentlichung von Umweltdaten auf den Weg bringen. Der Entwurf befindet sich
gegenwärtig im Gesetzgebungsprozess und schließt auch das Monitoring der
Luftqualität mit ein (https://www.hse.ru/en/news/research/310656474.html;
Date of Access: 2020-03-02).
Sehr gut – das ist die
erste Reaktion bei allen normalen Menschen, die dreckige und giftige Luft hassen.
Dreckige Luft ist der Killer Nummer Eins, warnt die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) seit Jahren, und zwar nicht nur in Asien, dem üblichen Verdächtigen,
sondern genauso in Europa und der restlichen OECD-Welt. Die zweite Reaktion bei
denen, die sowohl die Luft als auch das politische System in Russland kennen,
ist: ausgerechnet noch ein Gesetz! Das Problem in Russland ist nicht der Mangel
an (gutgemeinten) Gesetzen. Das Problem ist üblicherweise deren (mangelhafte)
Umsetzung. Wenn es an etwas mangelt, dann an Gesetzesfolgenabschätzung.
Welche Erfahrungen gibt
es zum Thema Monitoring der Luftqualität aus Deutschland? Lässt man die die politischen
Diskussion um Feinstaubbelastung, Stickstoffdioxid und Dieselautos in
Deutschland Revue passieren, dass sollte sich der Gesetzgeber in Russland im
Rahmen des Gesetzgebungsprozesses mit drei weitergehenden Fragenkomplexen beschäftigen:
Messung, Grenzwerte und der Durchsetzung von Fahrverboten. Die entscheidenden Fragen
lauten:
Was messen wir, wo und wie oft? In Deutschland messen 352 Messstationen einmal in
der Stunde die Konzentration von fünf Schadstoffen, Feinstaub (PM10),
Kohlenmonoxid (CO), Ozon, Schwefeldioxid (SO2) und Stickstoffdioxid
(NO2). Daraus werden Tagesmittel-, Acht-Stundenmittel-, bzw. Ein-Stundenmittel-Werte
berechnet. Diese Luftdaten sind tagesaktuell für alle 352 Messstationen frei
zugänglich online z. B. über die Seite des Umweltbundesamtes verfügbar. Die 16 Bundesländer
verantworten die Messung, sie werden dann in Zusammenarbeit mit dem UBA
ausgewertet.
Der russische Gesetzgeber
muss also entscheiden, wie viele solcher Messstationen er wo aufstellt, um ein
realistisches Bild von der Luftqualität in Russland zu erhalten. Messstationen
stehen bereits an zahlreichen Punkten, zum Beispiel auf dem Gartenring in
Moskau nähe Kreuzung Prospekt Mira. Er muss zweiten die Regionen und die russische
Umweltbehörde befähigen, die Daten zusammenzuführen, auszuwerten und
schließlich zu veröffentlichen.
Ist das jetzt schon schlechte Luft? Was schlechte Luft ist, das hat für Deutschland die
EU festgelegt (EU Richtlinie 2008/50/EG). Die Luft hat demnach eine schlechte
Qualität, wenn die Luft mehr Schadstoffe enthält, als vorgeschrieben. Die Grenz-
und Zielwerte für die einzelnen Schadstoffe hat der deutsche Gesetzgeber von
der EU übernommen (39. Verordnung zur Emissionsschutzverordnung). Jede Station
misst also z. B. jede Stunde, wieviel Mikrogramm, das ist ein Millionstel Gramm,
Feinstaub, das sind klitzekleine Teilchen, die aus Schornsteinen, Auspuffen und
bremsenden Reifen kommen, in einem Kubikmeter Luft, das ist ein Paket, dass 1m
hoch, 1m breit und 1m lang ist, enthalten sind. Aus allen Werten eines Tages berechnet
ein Computer den Mittelwert. Die kritische Grenze für den von grobkörnigem Feinstaub PM10, es gibt auch
Feinkörnigen Feinstaub PM2,5, der sog. Tagesmittelwert ist 50 μg/m³.
35-mal im Jahr darf die Luft an der Messstation
dreckiger sein als 50 μg/m³, aber nicht öfters.
Die Station misst die
Feinstaubbelastung jede Stunde und das ein ganzes Jahr lang. Tagsüber gibt es
mehr rauchende Schornsteine und fahrende Autos als Nachts. Im Winter wird mehr
geheizt als im Sommer. Deshalb nimmt man alle Messwerte eines Jahres und
berechnet daraus ebenfalls einen Jahresmittelwert. Im Jahresmittel darf die grobkörnige Feinstaubbelastung (PM10) nicht höher sein als 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft (40 μg/m³).
Genauso wird der Gehalt
von Stickstoffdioxid (NO2)
in der Luft gemessen. Auch dort darf die gemessene Belastung übers ganze Jahr
hinweg (Jahresmittelwert) nicht höher
sein als 40 μg/m³.
Übernimmt Russland diese EU-weiten
Grenzwerte? Oder geht man darüber hinaus? Die WHO legt deutlich schärfere Maßstäbe
an. Laut WHO sollte der Tagesmittelwert an Feinstaub die Konzentration von 50 Mikrogramm
pro Kubikmeter idealerweise höchstens drei Mal im Jahr überschreiten, und nicht
35 Mal, wie es die EU erlaubt. Es ist gut, dass die deutschen Grenzwerte von
der EU kommen, in anderen Worten, dass die deutschen Regelungen im europäischen
Rahmen eingehegt sind. 2018 versuchten sich der Bundesverkehrsminister und mit
ihm das gesamte Kabinett der EU-Grenzwerte zu entledigen und sie einfach
aufzuweichen, um Fahrverbote zu umgehen. Frei nach dem Motto: Der Grenzwert
nervt – dann weg damit! Eine Möglichkeit wäre, dass Russland sich informell an die
EU-Standards bindet. Jede nachträgliche Aufweichung hätte dann hohe
Reputationskosten, das würde möglichweise abschrecken.
Wer setzt Fahrverbote und Fabrikschließungen
durch? Schmutzige Luft hatte
viele Ursachen, Fabrikschlote, Autos und Heizungen verursachen relevante
Anteile. Noch komplexer als die Ursachenanalyse sind die administrativen
Gegenmaßnahmen. Die schönsten Messungen nützen nichts, wenn Luftverschmutzung
folgenlos bleibt. Diese Situation gab es in Deutschland jahrelang, wo die
Grenzwertüberschreitungen in Dutzenden deutschen Städten Achselzuckend
hingenommen wurden. Die Luftreinhaltepläne der Länder haben zwar zahlreiche
Einzelmaßnahmen erarbeitet, eine effektive Verbesserung der Luftqualität ist dadurch
z. B. aber im Verkehrssektor nicht eingetreten. Hier ist zum Beispiel Moskau im
Vorteil gegenüber Berlin. Während in Deutschland über kostenlosen Nahverkehr diskutiert
wird (eine Maßnahme, die ohne Taktverdichtung weitgehend Sinn frei ist), setzt Moskau
unter seinem Bürgermeister Sobjanin ein integriertes Verkehrskonzept um. Es
gibt seit 2015 eine neue innerstädtische S-Bahn, Dutzende neue Metrostationen auf
bereits bestehenden Linien und seit Ende 2019 ein neues Regionalzugsystem. Das
wird ergänzt durch Elektrobusse im Zentrum, Fahrrad und Rollerleihstationen
eines einzigen (!) Anbieters und ein Car-Sharing System. Es können konkret mehr
Menschen schneller, komfortabel, sicher, zuverlässig, sauber und kostengünstig als
vor fünf Jahren von A nach B kommen – damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass
sie auch tatsächlich vom Auto auf den ÖPNV umsteigen.
Die entscheidende Frage
für das russische Gesetz über Umweltinformationen ist, wer welche Maßnahmen
verantwortet und umsetzt, wenn die Luftqualität schlecht ist. Ist die Moskauer
Stadtregierung bereit, Fahrverbote für Dieselmotoren durchzusetzen, wenn
Grenzwerte dauerhaft überschritten werden?
Wenn interessiert es, ob die Luft schlecht ist? Mit
anderen Worten, hat das alles systemdestabilisierenden Charakter? Umfragewerte deuten darauf hin, dass Umweltschäden
und speziell Luftverschmutzung in Russland zu einem gewissen Grade wahrgenommen
werden. Ob die Wahrnehmung von Umweltverschmutzung
Wahlentscheidungen beeinflusst, ist jedoch fraglich und für Russland nicht
empirisch belegt.
Es gibt jedoch zwei interessante
historische Beispiele mit Bezug zum Thema: Die USA haben in den 1990ern und
200ern die Luftverschmutzung in Beijing in ihrer Botschaft gemessen und die
Daten online gestellt. Die Stadtregierung hatte die Umweltdaten bis dato nicht
selbst veröffentlicht. Umweltinformationen wurden hier jahrelang erfolgreich
als Instrument verwendet, um von ökologischen Defiziten argumentativ auf politische
Defizite überzuleiten. Ein solches Szenario ist auch für Russland denkbar.
Die politische Oppositionsbewegung
in der DDR gewann Zulauf, indem sie Proteste gegen Umweltverschmutzung durch
Industrie- und Chemiebetriebe aufgriff und instrumentalisierte. Dieses Szenario
hat Parallelen zu den aktuellen Müllprotesten im Moskauer Umland und in
Nordrussland.